Die Schneeverwehten: Der ewige Fall (Teil 4)

von | 17.02.2021 | Kreativlabor

Endlich stand sie am Abhang. Vor ihr tat sich die Dunkelheit auf, nach der sie so lange gesucht hatte.

Seit drei Äonen war sie durch die Welt gewandert, hatte die alten und neuen Berge bestiegen, immer auf der Suche nach diesem Abhang, der sich nun vor ihr auftat.

Sie wusste nicht mehr, warum sie losgegangen war. Ob sie die Stille des Schweigens gegen die Stille der Einsamkeit eintauschen wollte oder ob sie es einfach nicht mehr ertrug, regungslos im Schnee zu sitzen. Vielleicht wollte sie sich auch langsam auflösen; sie erinnerte sich nicht.

So hatte sie ihren Weg ohne Grund und Ziel begonnen. Setzte einen Fuß vor den anderen, immer geradeaus, den Blick starr auf den Boden gerichtet.

Zorn schwelte in ihr, als sie ein Zeitalter lang immer nur das gleiche Weiß sah und nicht sagen konnte, ob sie nur einen Tagesmarsch weit gekommen war oder die Welt schon dreimal umrundet hatte. Doch in dem Moment, an dem Wut und Unverständnis beinahe gewonnen hätten, schärfte sich ihr Blick und sie erkannte Formen im Schnee: alte Straßen, die die Welt verbanden, Blumenwiesen, die die Erde bedeckt hatten, Geschichten, die unter dem Schnee begraben lagen und die von ihm in neuer Form weitererzählt wurden. Sie entdeckte ein Funkeln im Schnee, das sie nicht gleich verstand, bis sie erkannte, dass es eine feine Spiegelung war: Sie hob zum ersten Mal seit langer Zeit wieder den Kopf und blickte in den Himmel, der für sie bisher einfach nur schwarz gewesen war. Nun blickte sie nicht länger auf den leeren Raum über ihr, sondern bemerkte ein Funkeln und Leuchten, das alles erhellte.

Die Sterne sollten ihr Ziel sein, beschloss sie.

Sie setzte weiterhin Schritt vor Schritt und überlegte, wie sie diese tausend Sonnen erreichen könnte.

Sie müsste fliegen können, dachte die Schneewanderin. Wenn sie nur den passenden Ort, den richtigen Startpunkt fände – das war ihre feste Überzeugung – dann sollte es schon gelingen. Auf einem Gipfel, dem höchsten Gipfel wollte sie der Schwerkraft entkommen, sich vom Boden befreien und fliegen.

Diesen Gedanken im Kopf wiederholend ging sie weiter, oder begann vielmehr ihren eigentlichen Weg.

Die weiten Ebenen, die endlosen Schneefelder wurden zur Qual. Das Weiß erstreckte sich bis zum Horizont, wo es eine scharfe Grenze zu geben schien, an der sich das Weiß des Bodens vom Dunkel des Himmels trennte. Sie schien ihr manchmal unüberwindbar. Die Grenze war nur eine Illusion, die nicht übertreten werden konnte, weil sie sich mit jedem Schritt, den sie tat, verschob und weiter in die Ferne rückte. Das Weiß schien sich ewig zu erstrecken und das Dunkel des Himmels, in dem die Sterne verheißungsvoll funkelten, ließ sich nicht erreichen. In solchen Momenten vergaß sie manchmal fast, warum sie weiterging. Sie verfiel wieder in die Orientierungslosigkeit ihrer früheren Zeiten. Sie wurde langsamer und ihr Gang verlor von einem Schritt zum nächsten seine Kraft.

Sobald sich am Horizont ein Gebirge abzeichnete, kehrten ihre Gedanken an den Sprung in den Himmel zurück. Das Funkeln des Schnees und der Sterne sprang in ihre Augen und ihr Schritt wurde fester und schneller. Sie eilte auf die Erhebung zu, zog sich an der Wand hoch, ganz gleich, wie steil sie war. Sie fand mit ihren Füßen immer Halt, bohrte ihre Hände durch den Schnee und griff nach dem Felsen,

Bis sie ganz oben stand.

Sie atmete die dünne Luft tief ein. Sie streckte ihre Arme in den Himmel und spürte die kühle Wärme der Sterne auf ihren Handflächen. Sie schloss die Augen und genoss es, sich ihrem Ziel so nahe zu fühlen.

Als sie jedoch nach unten blickte, musste sie wieder erkennen, dass dies nicht der richtige Ort war, um aufzusteigen. Sie blieb stehen und genoss für eine Weile die Nähe zu den Sternen. Dann ging sie weiter, rutschte, rollte und stolperte abwärts.

Die Berge, die sie erreichte, wurden immer höher. Bis sie zum ersten Mal zu einem Gipfel kam, der kleiner war als der vorherige. Sie spürte genau, dass sie sich beim letzten Mal den Sternen viel näher gefühlt hatte und begann an ihrer Idee zu zweifeln. Ihr Wunsch war jedoch zu groß, um aufzugeben und so ging sie weiter.

Ein Zeitalter später schleppte sie sich über eine scheinbar endlose Schneefläche. Ihr Schritt war schwächer, ihre Zielstrebigkeit ließ nach. Das Funkeln der Sterne: unerreichbar, dachte sie. Dennoch ging sie weiter, weil sie inzwischen nicht wusste, was sie tun sollte.

Plötzlich stand sie an einer Kante, vor ihr ein Schlund. Auf ihrer Reise hatte sie viele Krater und Schluchten gesehen, an deren Grund allerdings immer nur das gleiche Weiß gewartet hatte. Doch dieser Abgrund war anders, führte so weit in die Tiefe, dass nichts mehr zu sehen war. Während der Schnee das Funkeln der Sterne spiegelte, entsprach der Graben mit all seiner Finsternis dem leeren Raum zwischen den Sternen.

Nachdem sie lange in diese unbekannte Tiefe geschaut hatte, begriff sie, dass dies der Ort ist, nach dem sie gesucht hatte, der Moment, auf den sie zugegangen war.

Sie stellt sich ganz nah an die Kante und neigt ihren Körper leicht nach vorne, um direkt in den Abgrund zu blicken. Sie erkennt lauter kleine Punkte. Ein Licht, nach dem sie sich gesehnt hatte.

Sie beugt sich weiter vor, lässt ihre Körpermitte über den Abhang schweben. Neigt sich weiter, bis sich ihre Füße aus dem Schnee heben. Sie streckt ihre Arme hinter sich und neigt sich langsam weiter nach vorn, bis sie an die Grenze zwischen weißem Schnee und schwarzer Nacht stößt. Die nicht außer Reichweite oder undurchdringlich ist; diesmal ist sie fein und durchlässig. Sie neigt sich noch etwas weiter, rutscht aus dem Schnee und fällt in die Dunkelheit.

Sie lässt sich fallen und hofft.

Eine Sekunde ist da die Angst, in der der Schein des Schnees verblasst und die Schwerkraft mit voller Wucht an ihr zu ziehen scheint.

Dann gibt es kein Oben und kein Unten mehr. Die Zeit wird von der Dunkelheit verschluckt und sie schwebt langsam nach unten.

Sie nähert sich dem Leuchten; es funkelt rundum.

Sie fällt durch die Sterne.

Sie streckt ihre Arme in alle Richtungen aus und greift nach dem Funkeln und verbrennt sich fast die Finger.

Sie fällt durch einen Sternenhaufen.

Daraus lösen sich drei kleine Sonnen, die sie eine Weile begleiten, bis sie einen Platz im Universum finden. Sie zwinkern ihr zu, während sie weiter durch das Sternenmeer gleitet.

Sie wird langsamer, während sie beobachtet, wie ein Paar Zwillingssterne stirbt. Sie fällt mitten zwischen sie und sieht, wie ihr Licht langsam verblasst. Immer, wenn einer der beiden Sterne die Hoffnung verliert und die Angst vor dem Tod, die auch Sternen nicht fremd ist, übermächtig wird, nimmt der andere alle Kraft zusammen und leuchtet auf. Sie verharrt und schaut dem Verblassen der Lichter zu.

Von einem Moment auf den anderen verglimmt das Leuchten der beiden endgültig. Sie werden nur kurz schwarz, bevor sie in einem bunten, wunderbaren Funkenregen auseinanderbrechen. Und sie, die ewig fällt, verspricht den beiden ganz leise mit einem lauten Schrei, diesen Anblick niemals zu vergessen und ihren Tod zu ehren.

Es wird für eine Weile dunkel.

Dann kommt sie zu einer Gruppe von jungen Sternen, die gemeinsam ein Muster bilden, das zu komplex ist, um es zu beschreiben. Ihr Muster ist so eindringlich, dass sie instinktiv spürt, dass sie außergewöhnliche Künstler vor sich hat, die mit ihren Körpern eine Sinfonie aus Licht erschaffen, in der sie den Funkenregen der Zwillingssterne zu erkennen glaubte.

In diesem Augenblick scheint ihr die Reise durch den Schnee wie ein kurzer Moment, nicht mehr als ein Blinzeln – während die Minute des Fallens für sie zu einer Ewigkeit wird.

Text: Thilo Sauer
Illustration: Seitenkünstler Aaron
Thilo Sauer

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