Die Entdeckung der Fliehkraft

von | 26.02.2020 | Auditorium, Hörbücher

Der Autor Kai Weyand hat sein neuestes Buch „Die Entdeckung der Fliehkraft“ für das Hörbuch selbst eingesprochen – ein ruhiges, einfaches, aber tiefgründiges Werk, dessen Hauptfigur Satzhüterin Pia ordentlich Nerven gekostet hat. Warum das so war und warum das Hörbuch dennoch Stärken hat, verrät sie hier.

Karl Löffelhans ist Mitte 30, hat ein geregeltes und insgesamt ziemlich unaufgeregtes Leben, sieht man einmal von seinem Job als Deutschlehrer im Knast ab. Er hat eine Frau, einen kleinen Sohn, eine zufriedenstellende Arbeit und sogar noch ein wenig Zeit für sich, um Kaffee zu trinken und schöne Sätze vom Münsterturm aus in die Welt segeln zu lassen. An seine Schüler im Knast stellt Karl nämlich gerne philosophische Fragen, deren beste Antworten er in die Welt entsendet. In Papierform, nicht im Internet. Karl fragt sie zum Beispiel: „Was macht ein Umweltamt?“ Einer der Schüler antwortet: „Ein Umweltamt macht nicht genug, denn es ist ein Amt.“

Irgendwie ist Karl aber dennoch nicht glücklich – zu viel hat sich zwischen ihm und seiner Frau Lydia verändert, seit ihr Sohn Linus auf der Welt ist. (Nein, in der Welt, das sei doch viel schöner, ein Mensch lebe doch lieber in der Welt, als auf ihr. In dieser Art spinnen sich Karls Gedankenspiele durch das gesamte Hörbuch.) Irgendwo in Karl ist da der Wunsch nach Veränderung. Und irgendwann kommt diese Veränderung – aber macht ihn das nun glücklicher?

„Ich bin jetzt hier und kann nicht woanders sein.“

Eines Tages auf dem Weg zur Arbeit macht Karl in seinem Stammcafé Halt, trinkt einen doppelten Espresso und beobachtet eine Szene, in der ein Paar, etwa Mitte bis Ende 40, sich zum Abschied zärtlich küsst. Er überlegt, seiner Frau eine Nachricht zu schreiben. Doch stattdessen blättert er durch seine Kontakte und bleibt an Karoline Merlinger hängen. Sie hatten sich im Jahr zuvor bei einer langweiligen Verlagsveranstaltung kennen gelernt, bei der von Kaffee bis Häppchen alles schlapp war, nur Karoline hatte gestrahlt und auf Karls Nachfrage hin gemeint: „Ich bin jetzt hier und kann nicht woanders sein.“ Sich an diesen Satz erinnernd schreibt er ihr eine Mail. Daraus entwickelt sich ein reger Austausch vor allem philosophischer Art. Immer intensiver werden die Gespräche – eine Affäre (rein geistiger Natur) entsteht.

Gleichzeitig wird ihm seine Familie immer fremder. In der Ehe ist aus gegenseitigem Interesse Desinteresse und nicht selten Genervtheit geworden. Ihre Ansichten driften immer weiter auseinander, ein Beispiel: „Was Lydia als Unordnung empfand, war für ihn ein Zeichen für Leben.“ In ihrem Alltag gehen jedoch nicht nur ihre Ansichten auseinander, sondern sie beginnen sich regelrecht auseinander zu leben – durch den gesamten Text zieht sich dabei die Liebe zur deutschen Sprache und Grammatik des Protagonisten:

„Karl mochte es sehr, wenn sie ihr Zusammenleben grammatikalisch in Einzelteile zerlegten und wenn sie am Ende trotz allem einen Satz bauen konnten, der Subjekt, Prädikat und Pronomen enthielt und ungefähr so lautete: ‚Wir lieben uns.‘ Oder zumindest: ‚Wir mögen uns.‘ Aber Karl kam es mittlerweile so vor, dass sie in letzter Zeit vermehrt Sätze bildeten, die aus dem Wir ein Ich machten, aus dem Lieben ein Habe und das Pronomen Uns in das Adverb Recht verwandelten.“

Seinen pflegebedürftigen Vater besucht er nur aus Pflichtbewusstsein, sie haben sich schon lange nichts mehr zu sagen. Und schließlich wird sein Verhalten in wenigen Schritten, ja, man kann sagen: (selbst)zerstörerisch.

„Wie kann ich erkennen, dass ich mich über das Richtige aufrege?“

Neben vielen Dingen, an denen Karl etwas auszusetzen – oder zu denen er zumindest eine konkrete Meinung – hat, sind ihm Trampoline mit Sicherheitsnetz ein besonderer Dorn im Auge:

„Der Anschein der Wahrheit lautete: Kinder dürfen springen und toben und sind trotzdem sicher und behütet. Aber die eigentliche Wahrheit hieß: Kinder sind Gefangene auf vier Quadratmetern und die Entdeckung der Welt darf nur in der Vertikalen stattfinden.“

Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen: Diese Abneigung gegen etwas letztendlich so Banales wie ein Trampolin mit Sicherheitsnetz, sollte sich am Ende noch rächen… Denn diese Sicherheitsnetze, so wird sich herausstellen, haben eindeutig ihre Daseinsberechtigung.

Themen, die die Welt bedeuten

Die schlichte Geschichte greift tiefgründige Themen in vielen Facetten auf. Vornean der Wunsch nach Veränderung, der Karl zum Beispiel dazu treibt, sich mit Karoline in Verbindung zu setzen. Freundschaft und Liebe werden thematisiert, auch der Tod bekommt seinen Part. Und besonders spielen auch die Schuld und die Verantwortung eine Rolle in Karls Leben. Überall schwingt dabei Philosophisches mit, zieht sich durch seinen Deutschunterricht, der hin und wieder beleuchtet wird, aber vor allem zeigt es sich in seinen Nachrichten mit Karoline.

Es gibt nicht viele Figuren in dieser Geschichte. Dafür sind diese plastisch, eindringlich und auch drastisch, dabei (mir) jedoch nicht alle immer sympathisch. Hervor stechen der besondere Nachbarsjunge Homer und seine Mutter Frau Kircheisen. Immer, wenn Karl Homer und seine Mutter trifft, freut er sich und der Junge (allem Anschein nach) mit dem Down Syndrom stellt ihm eine seiner schwarzhumorigen Fragen à la „Wie stirbt ein Metzger? – Er springt über die Klinge.“ Nur Karl scheint nicht in der Lage zu sein, diese Fragen beantworten zu können, was Homer süffisant Karls Intelligenz in Frage stellen lässt. Homers Schicksal ist am Ende enger mit dem von Karl verknüpft, als anfangs angenommen werden kann.

Selbst Nebenfiguren wie Karls Schüler im Knast bekommen eine gewisse Tiefe, besonders durch die Fragen und Antworten, die eine Menge über die Menschen aussagen können. Als Karl sein Fahrrad reparieren muss, trifft er auf einen philosophisch anmutenden Fahrradmonteur: „Ein Mensch, der immer was braucht, ist eben auch ein Mensch, dem immer was fehlt“, sagt er zu Karl, auf dessen Aussage hin, dass er etwas brauche – natürlich, denn jeder brauche etwas, wenn er zum Beispiel in einen Fahrradladen gehe.

Und welche Rolle spielt Karoline? Sie wird in Karls Leben gezogen – unwillkürlich und plötzlich. Ganz unvermittelt schreibt er ihr, löst mit jeder Mail, jedem weiteren Gespräch und Gedankenaustausch bei ihr etwas aus und bereichert ihr Leben. Doch genauso plötzlich ist er wieder weg, Stille und Schweigen hinterlassen ein Loch, wo vorher noch nichts war, wo ein Loch hätte Platz nehmen können. Und das führt mich zum nächsten Punkt:

Ach Karl, ey…

Karl Löffelhans hat mich auf vielen Ebenen ratlos zurückgelassen. Sein Wunsch nach Veränderung ist offenbar innerlich derart groß, dass er sehr viel in Bewegung setzt und am Ende alles Gute in seinem Leben manipuliert, ohne dass er sich dessen unbedingt so bewusst sein mag.

[tds_warning](Dieser Abschnitt ist leider nicht gänzlich spoilerfrei, weil ich genauer schildern möchte, was mich an Karl so gestört hat. Ich versuche aber nicht zu konkret zu werden.)[/tds_warning]

Selten zeigt Karl sich seiner Frau gegenüber fair. Sie und der gemeinsame Sohn Linus scheinen ihr Leben zu führen, Karl seins. Er kümmert sich kaum, aber wenn, dann wird akribisch geschildert, was er zum Beispiel alles großartig in der Küche aufgeräumt hat. Die Unzufriedenheit seiner Frau spiegelt seine Unzufriedenheit spiegelt ihre Unzufriedenheit… und dazu kommt noch eine vollkommen unmögliche Kommunikation. Aber was am schlimmsten ist: Es ist Karl vollkommen bewusst und er handelt dennoch so und nicht anders.

„Es war nach fünf, als Karl den Schlüssel in die Haustür steckte. Er wusste, dass Lydia um die Uhrzeit gestresst sein konnte. Die Vorbereitungen des Abendessens, ein quengelnder Linus und die stille Verärgerung darüber, dass Karl deutlich später nach Hause kam als gedacht, wenn nicht sogar als abgesprochen.“

Eine Situation mit seinem pflegebedürftigen Vater ist mir besonders in Erinnerung geblieben (einmal abgesehen davon, dass es grundsätzlich schon fragwürdig ist, warum Karl sich bei so viel Unlust überhaupt so häufig zu seinem Vater schleppt – sein einziger Antrieb ist absolut egoistisch, denn er tut es nur, weil er sich schuldig fühlt, wenn er es nicht tut): Seinem Vater, der ebenfalls Karl heißt, ist nicht nach Besuch, er bittet seinen Sohn, wieder zu gehen. Das, was wir bisher über ihn erfahren haben, zeigt, dass diese offene Bitte ungewöhnlich für ihn ist. Aber Karl empfindet es als Rausschmiss und denkt, dass sein Vater doch dankbar für seinen Besuch sein müsste. Diese Aussage fand ich ausgesprochen unpassend, ich-bezogen und alles andere als fair dem Vater gegenüber, der natürlich in seinem Zimmer auch seine Ruhe haben darf. Aber gut…

Karls Verhalten ist selbstzerstörerisch – in der zwischenmenschlichen Beziehung, aber auch tatsächlich, wie bei einem bösen Fahrradunfall, dessen Ausgang er durch eine halsbrecherische Fahrt herausfordert. Und nicht nur zerstörerisch, sondern auch selbstsüchtig, unüberlegt und dumm ist seine nächtliche Tat, die… aber das würde wirklich zu viel spoilern.

Und nicht zuletzt Karls Verhalten Karoline gegenüber. Er erzählt ihr nie auch nur ein Wort von seiner Familie, lässt sie immer im Glauben, er sei ungebunden. Und am Ende, als sie sich treffen wollen und ein durch ihn verschuldeter Unfall geschehen ist, lässt er sie warten und warten, schreibt keine Zeile, dass er nicht kommen wird, etwas Unvorhergesehenes geschehen ist. Er liest ihre Nachricht, in der sie schreibt, wie sie gewartet hat. Aber er ignoriert dies, suhlt sich in seiner Schuld, seinem Selbstmitleid und denkt dabei offenbar kein Stück an Karoline und ihre Gefühle – und wenn, dann nur, um sich selbst noch schlechter zu fühlen.

Stilfragen und Gedankenfinessen

Kai Weyand liest seinen Roman selbst vor. Dabei lauschen ZuhörerInnen offensichtlich keinem professionellen Sprecher, die Stimme ist zu monoton, zu wenig pointiert. Doch darüber kann man gut hinweghören und man gewöhnt sich daran. Irgendwann fand ich es sogar passend, wie Weyand gemächlich seine ruhige Geschichte vorlas.

„Es war nicht so, dass […]“-Formulierungen durchziehen den Text, ein Stil, mit dem ich mich nicht anfreunden konnte, der mich bei der dritten Wiederholung in einem Absatz eher genervt hat, als dass ich es als stilistisch gelungen ansehen konnte.

Dafür hat der Text auch viele Stärken. Gedankengänge, die begeistern, Überlegungen, die faszinieren, philosophische Raffinessen und grammatikalische Künste. Ein Beispiel:

„Wenn man verliebt ist, startet man zusammen in den Tag. Und wenn man liebt, bemüht man sich, den Tag wenigstens zusammen zu beenden. Jedenfalls ist es doch so, dass eine Silbe verloren geht, wenn das Verliebtsein geht und die Liebe kommt. Und die Wahrheit lautet: Einsam wird nur, wem etwas verloren gegangen ist.“

Und so lässt mich „Die Entdeckung der Fliehkraft“ mit durchmischten Gefühlen zurück. Eine ruhige Geschichte mit sehr viel Tiefgang, sehr viel anstrengendem Protagonisten, liebevollen und starken Figuren am Rand und großartigen Gedankengängen. Vieles davon hat den Roman getragen – der anstrengende Protagonist Karl Löffelhans hat sich aber redlich Mühe gegeben, so dass ich das Hörbuch ein paar Mal fast nicht mehr beenden wollte…

Die Entdeckung der Fliehkraft. Autor und Sprecher: Kai Weyand. Griot Hörbuch Verlag. 2019.

 

Bücherstadt Magazin

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