Der Winter ist die Jahreszeit der Nacht und der Dunkelheit. Genau dorthin gehört der Text „luna luna“ der Dichterin Maren Kames. Ihr Buch ist eine vielstimmige und anspielungsreiche Ode an den Mond. – Von Stadtbesucher Thilo Sauer
„luna luna“ – das ist nicht nur der Titel der neuen Veröffentlichung von Maren Kames, es kann auch als Leseanweisung verstanden werden: Denn dieses Buch gehört in die Nacht. Vielleicht steht der Mond voll und rund am Himmel, vielleicht hat er uns auch seine dunkle Seite zugewandt und nur ein paar Sterne sind durch das Nachtleuchten der Stadt noch auszumachen.
Während alle anderen schon schlafen, eure Freunde, eure Mitbewohner, eure Follower – alle, dann erinnert ihr euch an dieses Buch. Ihr setzt euch mit einer heißen Schokolade neben eure Heizung oder legt euch mit einer warmen Decke auf die Couch. Vielleicht macht ihr klassische Musik an (ein paar romantische Nachtstücke) oder ihr spielt die zum Buch gehörende Playlist oder ihr genießt die Stille der Nacht.
Ein Gesamtkunstwerk
Denn dieses Buch braucht Ruhe. Obwohl ich wusste, dass Maren Kames an den Grenzen der sonst fest abgesteckten Genres schreibt, habe ich eine Weile gebraucht, um zu verstehen, was für ein Text das ist und wovon er handelt. Natürlich geht es um die Nacht, aber auch um Einsamkeit, Wahnsinn, Liebe, Krieg und das menschliche Miteinander. Es ist Monolog und lyrischer Gedankenstrom, Drama, Requiem und ein wilder Ritt durch Prosaszenen. Manchmal scheinen es Momentaufnahmen zu sein und dann gibt es auch Figuren, die immer wieder auftauchen und alles zusammenhalten.
Aber fangen wir von vorne an: beim Einband. Ich muss einige Worte zu der wunderbar aufwändigen Gestaltung dieses Buches verlieren, die für Bibliophile wie mich schon Grund genug für einen Kauf wäre. Der Secession-Verlag hat das Buch in schwarzen Stoff schlagen lassen, der die Hände beim Lesen zu streicheln scheint, während sie sanft über den Buchrücken gleiten. Auf der Rückseite wurde ein Zitat eingeprägt. Da es ebenfalls schwarz ist, kann ich es nur lesen, wenn ich das Buch etwas gegen das Licht bewege. Die Glitzerfolie, mit der der Titel eingeprägt ist, erinnert an das Funkeln der Sterne oder an das Drehen einer Discokugel.
„ich klebte
mir eine gans
aus pappmaché,
mit flügeln
und allem
dann
holte ich tief luft
und stach zu“
Beim Aufschlagen überraschen mich pinke Seiten, die auf ihre Weise auch an Pop erinnern. Zwei Zitate aus Songtexten geben diesen Seiten Kontext: „Pink Moon“ von Nick Drake und „Pynk“ von Janelle Monae. Das Pink weist also auch auf die Zeit der Veränderung und des Feminismus hin. Danach folgen nur noch schwarze Seiten, auf die der Text mit Weiß gedruckt wurde. Schon der gestalterische Anfang verrät viel über Kames‘ Buch, das sich der vielfältigen Motivik des Monds und der Nacht abarbeitet, mit Zitaten spielt, auf zahlreiche Popsongs referenziert.
Lieder des Mondes
„luna luna“ ist ein musikalischer Text und auch seine dreiteilige Struktur erinnert an Sinfonien und Sonaten. In der Mitte steht ein ruhiger Teil, der von zwei schnelleren flankiert wird, in denen sich teilweise Motive wiederholen.
So beginnt auch der erste Teil mit einem Zitat aus einem Song von Annie Lennox. Das weiß ich allerdings nicht wegen meines Wissens um Lyrics in der Popmusik – das ist quasi nicht vorhanden. Maren Kames geht offen mit ihrer Inspiration um oder ist sehr vorsichtig mit Plagiatsvorwürfen und verweist in Fußnoten auf die Originaltexte.
Die Zeilen „In meinen gloriöseren tagen bin ich ziemlich / lunar gewesen“ verweisen auch gleich auf die sprichwörtlich gewordene Wirkung des Mondes auf den Verstand, der sich unter der Wirkung des Erdtrabanten zurückzieht wie das Meer. Es ist außerdem ein Hinweis auf die Stimmung in diesem Buch, denn nicht immer kann ich den Gedankensprüngen folgen: Das Ich erzählt von einer zerstochenen Pappmaché-Gans und koppelt das mit einer Flugreise und dem Gefühl der Zerrissenheit.
Das Paradox der Liebe
Das lyrische Ich wirkt, als hätte eine Trennung sie in ein Stadium der Trauer und der Illusionen versetzt. Plötzlich taucht die Mutter auf und spricht ihrem „Mödchen“ zu, wobei auch Klischees der Weiblichkeit anklingen. Doch warum „Mödchen“? Und wer ist Mathilda? Das lyrische Ich scheint weiterhin mit den widersprüchlichen Gefühlen zu hadern, als der Sheitan auftaucht – ein Dämon arabischer Abstammung, der aus dem Fakeland (der unechten Gefühle) in diesen Text kommt.
„- hi!
Sagt der Sheitan.
– das paradox mit der liebe, sagt der sheitan,
ist, dass sie nur im innenraum gedeihen kann. wenn du sie also nicht reinlässt, in dein öh mondgebiet, bevor sie reif ist, bleibt sie immer ein kleiner kümmerling, bäh, minikeim, und du wirst alleine bleiben, in deinem bademantel, und vor dich hinmuffeln, tagein, tagaus, als stummelig, und also gehst du baden,
forever,
ciao!
soweit der sheitan.“
„luna luna“ ist ein klangvoller Text. Maren Kames reiht in kurzer Folge Worte mit gleichen Vokallauten aneinander. Sie orientiert sich an der gesprochenen Sprache, mit „Öhms“ und „Ähs“ und „Dutzidus“. Immer wieder tauchen Anglizismen auf, die teilweise wie eine Parodie eines Trends wirken, aber auch als Sprachkritik von Liebesbotschaften verstanden werden können.
Wortklänge und Tippfehler
Wie sehr dieser Text klingt, beweist auch die Hörspielfassung von Deutschlandfunk Kultur. Leopold von Verschuer hat den Text zerlegt und verschiedenen Sprechern in den Mund gelegt, die mal schneller, mal langsamer sprechen, mal flüstern, mal grummeln. Er geht der Vielstimmigkeit dieses Buches nach, indem er bei Brüchen die Sprecher wechselt und Dialoge als Dialoge geschehen lässt. Zugegeben: Die Audioinszenierung hat mir den Text nicht immer klarer gemacht, auch hier ist Konzentration gefragt, um den Gedankensprüngen zu folgen, aber das Hörspiel wirft neues Licht auf den Mondtext.
Es wird aber auch deutlich, dass dieser Text zum Lesen geschrieben wurde, wenn Kames die einzelnen Buchstaben untereinander setzt, um die Worte zu dehnen. Plötzlich taucht über zwei Seiten ein Schrei auf – die versinnbildlichte Wut, die Kames zu beherrschen scheint. Zwischenzeitlich scheint die Verwirrung sogar auf die Tastatur überzugreifen und die Buchstaben der Worte geraten durcheinander.
Der Wahnsinn des Krieges
Im Mittelteil vollzieht sich ein abrupter Themenwechsel: Es geht um Krieg. Während der Text bisher stellenweise an Poetry Slam erinnerte, wird er nun dramatischer, gesetzter und gemahnt sogar an den Expressionismus. Es kommen Ausrufer und Soldaten zu Wort.
„bin hier.
so viel zur stelle.
befinde mich wohl unter den apparaten.
sind riesige viecher, eisern und stahl, mir lieb,
ich finde das gewicht beruhigend.“
So nimmt sie das Wort Napalm auseinander:
„dass es sich um einen balsam handle, haben sie gesagt. als salbe hat man das verkauft, in tuben. der körper müsse anschwellen und abschwellen. die einreibung, balsamierung unterstütze durch ihre ganz präzise wirkung beim eindringen der substanz zunächst die aufweichung, dann das aufquellen, schließlich die verhärtung der entsprechenden glieder im angemessenen ausmaß.“
Auch das sind Szenen der Nacht. Noch deutlicher wird das, wenn Kames die Kriegsbilder mit Bildern des Alls verbindet. Sie erzählt mit Zitaten eines ESA-Astronomen von Sternschnuppen und Asteroiden, die die Erde treffen könnten. Dann lässt sie wieder einen Großvater vom Krieg berichten, jemand erinnert sich an eine Mathilde, ein Tyrann mit Basecap tritt auf (ist das Trump oder der Sheitan?), der den Krieg mit unwissender Lust anzutreiben scheint.
Es ist ein bildreicher Antikriegstext, der mich wünschen lässt, ein bekannter Theaterregisseur zu sein und dieses Buch auf die Bühne zu bringen. Um die Zeile im Sprechen zu vergegenwärtigen und mit Theaterbildern anzureichern. Hoffentlich denkt das auch jemand anderes, der diese Fähigkeiten und Mittel hat.
„aber zwischen schlaf und wachsein
liegt der schwachsinn
und lacht.
zwischen schlaf und wachsein
sitzt der sheitan
und schmatzt.“
Der vielgestaltige Mond
Im dritten Teil kehren wir wieder zur Liebe zurück und die Motive verdichten sich. Der Sheitan verbreitet wieder Wahnsinn und legt sich mit der Geisha an, die schon im ersten Teil erwartet wurde. Das lyrische Ich fragt den Astronomen, ob Ziegen eigentlich verrückt werden können. Am Ende kulminiert alles in eine große Vision.
„aber halt mal –
die geisha.
das mädchen im tüll.
aber ihr finger.
das ist noch nicht super genug.
und sie zieht eine kleine hammondorgel aus ihrer hose und erzählt im vibrierenden schiefern der dröhnenden töne ein alternatives finale von pulverisierter schönheit, sie sagt:
es ist ein gottverdammt winziger step
für das mädchen mit den mausigen haaren,
aber ihre mama schreit nein!“
Diese Mama ist der Mond, Frau Luna, Göttin Selene. Das Mädchen mit den mausigen Haaren irrt weiter auf der Suche nach Liebe und der Mond wird zur Leitfigur. Er verglüht, wird Wegweiser und schließlich zur Sängerin Annie Lennox, die mit der Geisha davonrudert.
Ein Buch für mehr als eine Nacht
Ich gebe es zu: Ich habe viel Zeit und eine doppelte Lektüre gebraucht, um an dieses Buch ranzukommen. Mein Fehler war, dass ich den Text verstehen und entschlüsseln wollte – ihm mit Verstand begegnen. Doch es ist ein Text der Emotionen und Sehnsüchte. Das Thema der Nacht steht in der Tradition der Romantik, die seit einigen Jahren wieder höher im Kurs steht und auf die sich Kames auch an einigen Stellen bezieht.
„luna luna“ ist Vision und Motivgeschichte, voller Sprachspielerei und Sprachkritik. Kames nimmt ihre Leser mit auf einen wilden Ritt durch die Nacht bis zum letzten Untergang des Mondes, der sich fast schon in die Sonne verwandelt. Vielleicht zweifeln die Leser an ihrem Verstand – was der Mond ebenso hervorruft. Doch sicherlich wird er genauso oft lachen und manche Bilder und Sätze für immer im Kopf behalten.
luna luna. Maren Kames. Secession. 2019.
Zum Weiterlesen:
- Lieblingsbücher 2016 (radiomephisto.de)
- Michael Braun: Hypnotischer Nachtgesang (deutschlandfunkkultur.de)
- Anja Kümmel: schafttief im saft der parolen (fixpoetry.com)
- Nick Lüthi: Luna Luna von Maren Kames (bookgazette.xyz)
- Björn Hayer: der balm, der plüsch, der flausch (zeit.de)
- Thilo Sauer: Zwischen Schollen schwimmen (schraeglesen.de)
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