Der erweiterte Literaturbegriff wird salonfähig

von | 16.10.2016 | Auditorium, Buchpranger

Was für eine Schlagzeile: Bob Dylan erhält den Literaturnobelpreis! Das könnte direkt aus einem Märchenbuch für Journalisten stammen. Diesmal allerdings ist es Realität und die schreibt ja bekanntlich die besten Geschichten. Also ran an die Schreibmaschine! Diese Gelegenheit lässt sich auch der Bücherstadt Kurier nicht entgehen!

Es ist gut vorstellbar, dass sich nun einige Vertreter und Verfechter der sogenannten hohen Literatur blau ärgern. Schließlich ist Bob Dylan kein Autor. Schon gar keiner von tiefschürfenden Gesellschaftsromanen. Lieder sind doch keine Literatur! Oder doch?
Was ist das denn eigentlich, diese Literatur? Ein zusammenhängender Text von – sagen wir – mindestens drei Seiten? Etwas, das zwischen zwei Buchdeckel passt? Aber durch diese Literaturdefinition würden sowohl sehr kurze Kurzgeschichten sowie Theaterstücke und Gedichte rausfallen. Aber das ist, wie wir alle aus der Schule wissen, eindeutig Literatur!
Woraus besteht nun ein Lied? Noten natürlich. Und – sofern es kein reines Instrumentalstück ist – dem Text. Geschriebenes Wort. Meist auch Wörter, die in Zusammenhang zueinander stehen, einen Sinn ergeben und nicht selten sogar eine Geschichte erzählen. Im Prinzip also eine Art Gedicht. Manchmal auch gereimt, oftmals nicht, aber auf jeden Fall mit Rhythmus und Betonung. (Kommen da Erinnerungen an die Lyrikeinheit im Schulunterricht auf?)
Im historischen Kontext gesehen ist es auch verwunderlich, dass wir zwischen Texten zum Singen und Texten zum Lesen so strikt unterscheiden. In Zeiten, als es weder Internet, Telefon, Fernsehen, ja nicht einmal Zeitung gab, Prä-Buchdruck also, war es Gang und Gäbe Geschichten vorzutragen. Auswendig versteht sich. Und damit sich die Barden die Texte leichter merken konnten, wurde gereimt. Und auch gesungen. Mit jedem neuen Medium, das entwickelt wurde, nahm das dichtende, singende Vortragen ab.
Liedtexte als Literatur zu betrachten, ist daher eigentlich gar nicht abwegig. Überraschend ist bloß, dass ausgerechnet eine alteingesessene Instanz wie das Nobelpreiskomitee beschließt, das allgemein gebräuchliche Verständnis des Begriffs Literatur zu erweitern.
Über die Auswahl des/der PreisträgerIn wird ohnehin jedes Jahr im Nachhinein diskutiert. Warum nicht diese, warum nicht jener? Auf der „Warteliste“ stehen viele AutorInnen, die Jahr um Jahr erneut nicht ausgewählt werden. Ob sie nun von einem der Ihren „überholt“ werden oder von einem Musiker ist da doch eher nebensächlich.
Bob Dylans Musik trifft nicht jeden Geschmack. Auch seine Texte werden nicht allen gefallen. Aber welches Gedicht, welcher Roman, welches Theaterstück gefällt schon allen Menschen? Daher ist die Vergabe von Literaturpreisen und anderen Kunstauszeichnungen ja auch so subjektiv. Weshalb der Sinn solcherlei Auszeichnungen ebenso häufig angezweifelt wie verteidigt wird.
Die Begründung des Komitees für seine Entscheidung liegt vor allem in Dylans langjährigem und intensivem Werk, mit dem er nicht nur die US-Amerikanische Musikwelt beeinflusst hat. Seine vielfältigen Verweise auf Romane, antike Sagen und ähnliches in seinen Songtexten wurden sicherlich auch berücksichtigt.

Den Literaturnobelpreis einem Musiker zu verleihen, stellt sich dem typisch schulisch-akademischen Literaturbegriff entgegen. Das ist interessant und begrüßenswert. Denn womit könnte ein Literaturpreis besser seinen Zweck erfüllen als damit, eine Diskussion darüber anzuregen, was Literatur ist?

Und übrigens: Herzlichen Glückwünsch, Mr. Dylan!

Zeilenschwimmerin Ronja
Bild: Worteweberin Annika

Ronja Storck

Ronja Storck

2 Kommentare

  1. Avatar

    Ich finde Dylans Texte großartig! Manche Lieder sind nicht auf den ersten Blick zu verstehen und bieten Raum für Interpretationen (All Along the Watchtower). Andere Stücke erzählen eine klare Geschichte (Hurricane). Außerdem hat er doch kürzlich den ersten Teil seiner Memoiren veröffentlicht, die hoch gelobt wurden, wenn ich mich recht erinnere. So abwegig ist die Entscheidung also nicht – und ich stimme Ronja zu: Zu Begrüßen ist sie allemal!

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  2. Avatar

    Schöner Text, Ronja! Ich find’s auch ziemlich spannend, dass der Begriff „Literatur“ endlich mal erweitert wurde. Auf der Welt wird sowieso zu vieles in enge Schemata gezwängt…
    Jetzt bin ich aber mal gespannt, ob wir auch in Zukunft Songwriter in dieser Kategorie der Nobelpreise finden werden 🙂

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