Das letzte Land

von | 07.06.2014 | Belletristik, Buchpranger

Anfang des 20. Jahrhunderts, ein Dorf im Norden Deutschlands. Ruven Preuk, der jüngste Sohn des Stellmachers Niels Preuk, zeigt schon im Kindesalter eine große musikalische Begabung, die dem Zufall sei Dank entdeckt wurde.

Ruven ist besessen, nahezu abgekapselt vom restlichen Geschehen und nimmt zunehmend eine Sonderstellung im Dorf ein. Anfänglich mit Spott übersät, bleibt ein gewisser Stolz auf Kultur auf dem Land nicht verborgen. So gehen die Jahre dahin, die Geige scheint mit dem Jungenkörper verwachsen, so untrennbar sind sie beide. Der erste Weltkrieg bricht aus und Niels Preuk, sowie andere Männer des Dorfes brechen auf.

„Dem Bien geht es nicht gut. Passen wir auf uns auf, mein Junge, damit uns nicht auch die Sonne verloren geht. Unserem Land leuchtet schon längst nichts mehr.“

Ruven wird erwachsen, zieht in die Stadt, verschreibt sich gänzlich der Geige, kommt zurück, heiratet, geht wieder und zieht nach Hamburg. Doch der nächste Krieg lässt nicht allzu lange auf sich warten. Und nimmt Ruven mit. Seit Kindheit an ist der Protagonist ein sehr stiller Charakter, denkt in Noten, ein Perfektionist, unausgeglichen, unzufrieden mit der Welt. Svenja Leiber versteht es all die Charaktere sensibel zu umfassen, ihre Skizzen lassen erahnen, doch schreiben nie vor:

„Das war ein ganz und gar anderer Ruven, als der, der am Vormittag in die Stadt aufgebrochen war. Und etwas kroch sie dabei an, und sie musste einmal kurz in die Speisekammer und sich mit der Schürze übers Gesicht, weil da dieser große Abschied also an die Tür klopfte, und abends, als ihr im Bett nochmals die Augen überliefen, da hat Niels neben ihr gelegen und an die Decke geschaut, und dann hat er nach ihrer Hand gegriffen, wie seit Jahren nicht, und sie hat gesagt, das sei eben das Schlimme am Muttersein, dass man seit der Geburt immer nur Abschied nehme.“

Man wird sanft in die Szene hineingeschoben, als wäre man beteiligt, als bräuchte man den exakten Wortlaut nicht, dass die Mutter weint, denn die Augen sind Zeugen genug. Drum wird es umschrieben, jedoch durch eine Blume, die zauberhaft duftet – und dank des Dialekts dennoch so bodenständig ist. Eine herrlich schöne Mischung.

„Nicht Kraft, sondern Mut braucht man, um wirklich anzufangen. In dem Moment, wo du anfängst, tritt der Ton vor dich hin, und du hörst deine eigene Musik. Du hörst das, was an dir Musik ist. Es kann einen um den Verstand bringen, weil man plötzlich ahnt, was wir sind – ja, ich glaube nämlich, wir sind zum größten Teil Musik!“

Das Jungtalent wird erkannt und gefördert, ihm haftet eine Seele an, die berührt und dennoch bleibt Ruven ein Künstlergenie im Stillen. Traurig erinnert man sich an zahlreiche andere Künstlerportraits und möchte ihn berühmt sehen, dass all sein inneres Leid nicht umsonst gewesen war. Oder nicht? Ist es nicht die Stille, die an Wahrhaftigkeit allem voraus ist?

„Wir glauben immer, wir müssten uns die Zukunft einkaufen. Aber ich sage dir, die Zukunft, die kriegen wir umsonst. Die kommt mit langen Beinen.“

So begegnen wir in der Lektüre auch einem Kunstsammler, der zu Zusammenkünften einlädt, die Reichen und Schönen durch seine Galerie führt, auch Maler mit großem Vergnügen bei sich speisen lässt. Zu letzteren Gästen gehört ein norwegischer Künstler, der die Atmosphäre mit einer dunklen Melancholie beschwingt. Philosophie und Politik dominieren die Tischgespräche, die den Roman im Zeitgeschehen platzieren:

„Das Entscheidende ist aber, dass man die Langeweile selbst nur schwer erträgt. Da fängt man lieber einen Krieg an, zur Not gegen sich selbst. Man greift an, um nicht von etwas Unerhörtem angegriffen zu werden.“

Die Autorin schuf ein Künstlerportrait in der Spanne eines gesamten Lebens, begleitete den Protagonisten durch jede Lebensphase hindurch und beschreibt minutiös Gedanken, Gefühle, Handlungen ohne dem Leser je etwas wegzunehmen: seine Phantasie!

Das Gefährliche an Musikerromanen ist das Aufzwängen eines Charakters in dessen Instrument – Klischees, die bedient werden und trotz aller musikwissenschaftlichen Kenntnissen des Autors nicht berühren. Doch hier ist es anders. Man wird beladen mit Aphorismen, wir schreien nach Nachschub, denn wir sind als Leser beteiligt und genießen den Rausch an Phantasie, die freigesetzt wird – minder aufgrund der Geschichte selbst, die ohne Frage sehr berührt – sondern vielmehr weil die Autorin die Sprache auf die Ebene der Kunst erhebt.

„Der Tod ist das Nadelöhr, durch das der Mensch hindurchmuss, um an die Sonne zu kommen.“

Der Dialekt und all die blumigen Umschreibungen im Kontext unseres heutigen Sprachgebrauchs sind anfänglich gewöhnungsbedürftig, doch es verzaubert – lächelnd liest man ungewohnte Passagen ein zweites, drittes Mal und versucht sich diese Wortverzweigungen zu verinnerlichen, einzuschließen in seine Gedanken um zur rechten Zeit Gebrauch von ihnen zu machen.

Der Tod schleicht sich verkleidet immer wieder heimlich in die Geschichte hinein, hält die Zeit an und kitzelt den Künstler, fordert ihn heraus, spielt mit ihm, hält ihm den Spiegel vor – sehr zum Leid des Künstlers – doch bewegende Höhepunkte für den Leser. Ein Roman, der mit Vorsicht zu genießen ist, denn man fühlt, ja leidet gar mit dem Protagonisten, den man von seiner Kindheit bis ins Totenbett begleitet.

Nicole (urwort.com)

Das letzte Land. Svenja Leiber. Suhrkamp. 2014.

 

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