Bungalow: Von Verzweiflung, Verwahrlosung und Überforderung

von | 15.11.2018 | Belletristik, Buchpranger

Verwahrlosung und Abgeklärtheit, Verzweiflung und Coolness – in Helene Hegemanns neuestem Roman „Bungalow“ geht es ins Extreme. Satzhüterin Pia hat sich den Longlist-Kandidaten des Deutschen Buchpreises vorgenommen und versucht nun, ihn zu begreifen.

Mit etwa 280 Seiten ist es beim besten Willen kein seitenstarker Roman. Und dennoch hat er es in sich. In einer dystopisch anmutenden Rahmenhandlung begleiten wir Charlie – ein Mädchen, das im Begriff ist, zu einer jungen Frau heranzuwachsen. Sie wohnt in einem Viertel, dessen Nachbarschaft aus Wohlhabenden und Armen zusammengesetzt ist. Von ihren Sozialbauten schauen sie auf Bungalows hinab, deren Bewohner besser situiert sind. In einer Art stream-of-consciousness erzählt die Protagonistin ihre Geschichte… von Dingen, die ihr wichtig erscheinen.

Außerhalb ihres Fokus‘ verschwimmen die katastrophalen Zustände der Welt drumherum zu einem düsteren Rauschen: Ökologische Katastrophen, wie zu hohe Ozonwerte, die die Menschen zwingen, tagsüber in ihren Wohnungen und Häusern zu bleiben. Oder auch ein beginnender Krieg, der nie so richtig erklärt oder benannt wird, aber wie eine schemenhafte Apokalypse doch deutlich da ist… oder war… oder kommt?

Ein Sinnbild für eine gestörte Gesellschaft?

So wie die Umwelt aus den Fugen geraten ist, zeichnen sich Extreme auch in der Gesellschaft ab. Massenhafte Selbstmorde (aus Verzweiflung über die Gesamtsituation) zum Beispiel. Wenig ist darüber zu lesen – hier und da ein konkreteres Beispiel, aber irgendwie wird es insgesamt recht abgeklärt erzählt. Wie eine Tatsache, die eben genannt wird, aber irgendwie auch keine entsetzliche Katastrophe ist. Doch die Überforderung aller Menschen – auch Charlies – wird dennoch deutlich.

Diese Gestörtheit findet sich auch in anderen Aspekten wieder: beispielsweise in Charlies Beziehung zu Maria und Georg. Das Ehepaar zieht eines Tages in einen Bungalow gegenüber ein und fasziniert Charlie von Beginn an. Diese Faszination nimmt mitunter arg seltsame Züge an. Die Anfangs gerade mal 12-jährige Charlie verfolgt die neuen Nachbarn, sucht ihre Nähe, übertritt dabei Grenzen, doch findet letztendlich einen Zugang zu den beiden. Eine sehr merkwürdige Dreierbeziehung entsteht.

„Als Maria aufstand, um den Fernseher auszuschalten, haute Georg ihr auf den Arsch und lachte weiter. ‚Ich liebe dich‘, sagte er. ‚Natürlich tust du das‘, sagte sie. ‚Ich zahle deine Miete.‘“ (S. 46)

Ganz nebenbei bricht Hegemann mit üblichen Mustern und Konventionen. Ähnlich wie die Erde ihrem Untergang ohne großartige Thematisierung dessen näherkommt, werden feministische Themen eingebunden und Stereotypen aufgebrochen. Starke Frauen, die mit ihrem Job ihre Männer ernähren. Junge Frauen, die eine selbstbestimmte Sexualität ausleben. Ein Junge türkischer Abstammung als Klassenbester. Ein sensibler bester Freund, der sich um Charlie sorgt und kümmert. Charlie selbst, die von ihrer jungenhaften Statur erzählt, die sie so mag. Ganz selbstverständlich behandelt Hegemann die Themen anders.

Charlie und ihre Mutter

Nicht nur die Umwelt und die Gesellschaft zeigen sich zerrüttet. Extrem gestört ist auch das Verhältnis von Charlie und ihrer Mutter. Diese ist alkoholabhängig, scheint leicht schizophren zu sein. Stimmen sagen ihr beispielsweise, sie solle ihrer Tochter ein heißes Bügeleisen auf den Rücken drücken. Vollkommen überfordert mit sich selbst, der Erziehung ihrer Tochter, hilflos dem Alkohol erlegen ist sie fast immer eine totale Katastrophe.

„Dann pinkelte sie auf den Fußboden und legte sich zurück ins Bett. Ich war fassungslos. Das hier war der Zustand, in dem Männer ihren Ehefrauen das Gesicht zerfleischten und danach Teile ihres rohen Fleisches aufaßen.“ (S. 104)

Charlie schwankt dabei zwischen Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit, aber auch einer abgeklärten Coolness, die ihre Taubheit und Ohnmacht widerspiegelt.

„Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt zu Hause, in der Nähe meiner Mutter, die in ihrer eigenen Kotze lag und heulte. Oder draußen oder in der Schule oder im Wald, in dem es phänomenal hübsch gezeichnete Steine gab, mit denen konnte ich den ganzen Sommer lang reden.“ (S. 17)

Der Schreibstil passt gut zu den Memoiren des Mädchens – wann genau Charlie das aufschreibt, ist mir jedoch unklar. Rückblickend? Dafür ist es zu detailreich. Dennoch heißt es in einem kurzen Absatz, dass sie heute selber Kinder habe. Der Text springt in den Zeiten und erzählt von Charlies Leben zwischen 12 und 17 Jahren. Der Hauptteil dreht sich um die Zeit, in der sie Maria und Georg kennen lernt. Aber der Strang wirkt auf mich etwas dazu gedichtet – zu abgedreht –, während es sich doch eigentlich um ihr Leben mit einer kranken Mutter dreht.

„Jeder, der einen Säufer zu Hause sitzen hat oder selber einer ist, kann sich denken, dass aus den Vorkommnissen dieser Nacht keine nennenswerten Konsequenzen gezogen worden sind, weder von mir noch von meiner Mutter noch von Gott oder dem Jugendamt oder von sonst irgendwem, es ging weiter, wie immer. Wir redeten nicht darüber, dass wir uns gegenseitig abstechen wollten.“ (S. 174)

Die gesamte Erzählung von ökologischen und gesellschaftlichen Katastrophen spiegelt im Grunde den Rahmen der kaputten und krankhaften Beziehung mit der Mutter wider.

„Der Schleier, der sie von der realen Welt trennte, verschwand dann für einen kurzen Augenblick. Und als befänden wir uns in einer ausweglosen Kriegskulisse, in der sich der vielversprechende Held als Erster umbringt, legt sich dieser Schleier zum falschesten Zeitpunkt wieder über sie.“ (S. 78)

Der Fokus wirkt verschleiert. Geht es um eine untergehende Welt? Eine obszöne Beziehung zwischen einer jungen Frau und einem erwachsenen Ehepaar? Oder doch einfach nur um ein verwahrlostes Mädchen und eine alkoholkranke Mutter? Die Quintessenz ist wohl eine Gemeinsamkeit aus allem: Verzweiflung, Extremes, Selbstüberforderung. Ein bisschen stehe auch ich nach der Lektüre so da. Was mache ich nun mit diesem Text, der mir einen so gruseligen Einblick in eine dystopische Realität gegeben hat, aber nichts so richtig zu Ende führt? Auf jeden Fall sticht Hegemann mit ihren Themen und ihrem Schreibstil aus der Masse an deutschen Literaten heraus und stand meiner Meinung nach zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

[tds_note]Wer von euch hat „Bungalow“ gelesen und was haltet ihr davon? Hat es euch gefesselt, fasziniert, im Regen stehen lassen oder einfach nur gut unterhalten?[/tds_note]

Bungalow. Helene Hegemann. Hanser Berlin. 2018.

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