Briefkästen sind am Verhungern!

by Bücherstadt Kurier

Wir befin­den uns in einer schlech­ten Zeit für Brief­käs­ten. Sie blei­ben hung­rig oder wer­den mit Wer­be­pro­spekt-Fast-Food und Rech­nun­gen abgefertigt.

Die Lei­den des hung­ri­gen Briefkastens

2000: Ich sitze vor einem lee­ren Blatt Papier, ohne die geringste Ahnung, was ich mei­ner ers­ten Brief­freun­din schrei­ben sollte.
1774: Johann Wolf­gang von Goe­the, noch ein jun­ger, über­schäu­men­der Stür­mer und Drän­ger, ver­öf­fent­licht sei­nen Brief­ro­man „Die Lei­den des jun­gen Wert­her“. Er löst damit unbe­ab­sich­tigt einen Skan­dal aus: eine Mode­welle der kana­ri­en­gel­ben Hosen und eine Selbst­mord­welle. Die Briefe Wert­hers an sei­nen Freund, in denen er sein Leben und sein Leid schil­dert, sind auf eine Art intim, wie sie für die heu­tige Zeit nicht mehr vor­stell­bar erscheint. Es gibt dem Leser das Gefühl, ein Voy­eur zu sein – durch das Loch in der Wand auf die Ereig­nisse zu blicken.

Sie erschei­nen wie ein Relikt aus alter Zeit: wer heute einen Brief schreibt, ist „alt­mo­disch“. Wer heute Briefe schreibt, dem fällt es schwer, ehr­lich zu sein. Es fällt gene­rell schwer, Briefe zu schrei­ben, und das in Worte zu fas­sen, was den Emp­fän­ger errei­chen soll. Wir befin­den uns in einer schlech­ten Zeit für Brief­käs­ten. Sie blei­ben hung­rig oder wer­den mit Wer­be­pro­spekt-Fast-Food und Rech­nun­gen abgefertigt.
Nur manch­mal ver­irrt sich eine Post­karte in ihren Schlund: die lie­ben, son­ni­gen, san­di­gen, meer-igen, reg­ne­ri­schen Urlaubs­grüße sind wie die Kir­sche auf dem Des­sert. Sie zau­bern ein Lächeln auf die Lip­pen ihrer Emp­fän­ger, und viel­leicht auch auf die Lip­pen jener, deren Hände sie auf dem Weg zu ihrem Ziel pas­sie­ren. Post­kar­ten sind etwas Ein­zig­ar­ti­ges: sie sind Briefe im Klein­for­mat, mit bun­ter Vor­der- und gedan­ken­schwe­rer Rück­seite – will man denn so viele Gedan­ken teilen.

Ich hatte einige Brief­freunde, doch in kei­nem der Briefe an sie gelang es mir, in Worte zu fas­sen, was ich dachte. Es war, als wären meine Gedan­ken ein­fach so… ver­pufft. Tabula rasa. Erst Jahre und zwei geschei­terte Brief­freund­schaf­ten spä­ter ging mir eines Abends ein Licht auf, wäh­rend ich über eine Post­karte mit Ams­ter­dam-Motiv gebeugt saß und einen klei­nen phi­lo­so­phi­schen „Roman“ aufs ver­stärkte Papier brachte. Das leere Papier eines Brie­fes hat eine so große Flä­che, die es zu fül­len gilt. Das ist manch­mal ganz schön schwierig.
Eine Post­karte hin­ge­gen stellt mit ihrem begrenz­ten Platz und ihrer freund­lich-bun­ten Vor­der­seite keine Anfor­de­run­gen. Wir dür­fen nur ein „Liebe Grüße aus der Bücher­stadt“ dar­un­ter­set­zen, aber es darf auch mehr sein. Wir kön­nen groß oder klein schrei­ben, schief und gerade. Wir kön­nen zeich­nen, malen, Aus­ru­fe­zei­chen set­zen so viele wir wollen!

Briefe waren phi­lo­so­phisch, tief­ge­hend und intim. Wir ver­schlin­gen heute noch die Briefe Goe­thes, Schil­lers und vie­ler ande­rer Per­sön­lich­kei­ten. Die For­schung benutzt sie als Inter­pre­ta­ti­ons­schlüs­sel, Bio­gra­phen lesen ihren Cha­rak­ter her­aus. Die ame­ri­ka­nisch-eng­li­sche Schrift­stel­le­rin Syl­via Plath etwa besprach ganze Gedicht­kon­zepte in Brie­fen an ihre Mutter.
1998: Ihr Mann, der Eng­län­der Ted Hug­hes, ver­ar­bei­tete in Gesprä­chen in Gedicht-Form ihren frü­hen Tod und die Jahre ihrer Bezie­hung in einem Gedicht­band mit Titel „Bir­th­day Letters“.
2014: Ich erwarte schon sehn­süch­tig mei­nen nächs­ten Urlaub, um wie­der Post­kar­ten zu schreiben.

Erika

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3 comments

Dorothea Ender 25. Juli 2014 - 17:37

Lie­ber Bücher­stadt-Kurier, auch der Brie­fe­schrei­ber bekommt gerne Post. Ich will damit sagen, dass ich schon vor 6 Wochen eine Geschichte zu dem düs­te­ren Weg­wei­ser geschrie­ben habe, und lei­der warte ich immer noch auf eine Ant­wort. Der Weg­wei­ser führte ins Nichts.

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Bücherstadt Kurier 25. Juli 2014 - 18:26

Liebe Doro­thea,
mög­li­cher­weise hat sich unser Buch­fink mit der Benach­rich­ti­gung über die Ver­öf­fent­li­chung dei­nes Tex­tes ver­flo­gen. Aber hast du schon ein­mal einen Blick in die neue Aus­gabe gewor­fen? Schau mal auf Seite 36: – bei uns gibt es keine Weg­wei­ser, die ins Nichts führen. 🙂
Liebe Grüße,
Alexa

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Dorothea Ender 25. Juli 2014 - 19:05

Liebe Alexa, hier ist der Buch­fink nach sei­nem lan­gen Flug ange­kom­men. Ich bin ihm sehr dank­bar für die Nach­richt und ich habe sofort das Maga­zin auf­ge­schla­gen. Ich werde die Seite kopie­ren und den bei­den Salz­bur­gern zukom­men las­sen. Sie haben sich inzwi­schen auch einem Ver­ein ange­schlos­sen, der das Erbe der Salz­bur­ger Flücht­linge pflegt und wei­ter erforscht.

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