Bis der Himmel mich dann ruft

von | 27.05.2014 | Kreativlabor

„Wenn unten dein Herz zerbricht, komm rauf, weil hier merkst du’s nicht…“
Julian Le Play, „Piloten“, Melodrom

Bild: Cornelia Kopp, singing nature, piqs.de

Das sind die Worte, die alles verändern. Es ist, als ob sich auf einmal der Himmel verdunkeln würde; oder klärt er sich etwa auf? Ist das denn überhaupt von Bedeutung? Das ist doch die gleiche Diskussion wie halb-volles-halb-leeres-Glas, oder? Oder doch nicht? Ist doch egal.
Jedenfalls sind es diese paar Worte, die mich frösteln lassen. Ich spüre wie sich meine Härchen aufstellen. Gänsehaut im Anmarsch. Und das auf einem vollen Konzert, wo die Raumtemperatur locker bei fünfundzwanzig Grad liegt.
Dieses Frösteln lässt mich daran denken, wer ich bin. Ich liebe dieses einzigartige Gefühl, wenn mich etwas so berührt, dass ich es am ganzen Körper spüre. Das ist es – unter anderem – was Kunst und Künstler-Sein für mich bedeutet, was Sinn für mich bedeutet, was leben für mich bedeutet.
Nur leider ist das Gefühl so schnell wieder verschwunden wie es aufgetaucht ist. Der Grund dafür: Ich konnte nicht richtig eintauchen, keine richtige Verbindung herstellen. Und das wiederum liegt daran, dass ich hier und jetzt versuche, jemand zu sein, der ich eindeutig, hundertprozentig, mit absoluter Sicherheit nicht bin.

Alles begann mit einer Bemerkung eines leicht angeheiterten Freundes meiner Mutter. Er sah mich an und meinte: „Du siehst gar nicht aus wie einundzwanzig, sondern wie eine professoressa. Wo ist denn die Jugend geblieben?“ Er sagte dies im Scherz und mit keinerlei boshafter Absicht. Doch meine Mutter nahm das sehr persönlich. Und so kam der alte Vorwurf wieder zum Vorschein: Ich verhalte mich überhaupt nicht meinem Alter entsprechend, sei langweilig und prüde. Da ich dies schon öfters und von mehreren Seiten zu hören bekommen hatte, beschloss ich in jenem Moment, dass ich genug hatte. Ich wollte ihnen allen zeigen, dass ich auch anders sein konnte.

Und nun stehe ich also in einem Konzert, es ist erstickend heiß, meine Platzangst lassen wir mal besser aus dem Spiel und die Lautstärke setzt mir so zu, dass ich Angst habe, mein Herz könne jeden Moment zerspringen. Kurz gesagt, ich fühle mich wie in der Hölle. Gute Musik hin oder her; ich kann sie einfach nicht genießen. Bereits nach den ersten paar Takten des ersten Liedes verspürte ich schon den tiefen Drang zu fliehen. Doch das hätte bedeutet aufzugeben, ihnen Recht zu geben und so stur war ich immerhin, dass ich das nicht zulassen konnte. Also unterdrückte ich den Fluchtreflex und blieb. Total idiotisch.

Das alles hätte ich vielleicht sogar noch ertragen können. Doch als ich dann diese Worte hörte, ich dieses vertraute Gefühl aufkommen spürte, es im nächsten Augenblick aber schon wieder wie weggewischt war, war es aus. Und just in diesem Moment realisierte ich: Es ist alles eine Lüge.
Eine solche Erkenntnis ist echt heftig. Es trifft dich wie ein Blitzschlag und jagt mit hunderttausend Volt durch deinen ganzen Körper. Es ist, als ob die Luft immer dünner werden würde, dein Herzschlag immer lauter und deine Muskeln immer schwächer. Wie ein Karussell, das sich immer schneller und schneller dreht, ein Flugzeug, das abstürzt, ein Schiff, das an einem Eisberg zerschellt, ein Glas, das zu Boden fällt und in tausend Scherben zerspringt.
Und was noch viel schlimmer ist: Ich bin daran Schuld. Daran, dass alles nur ein Lüge ist, ein Theaterspiel, ein Verbergen und Vorgaukeln. Denn ich bin es, die nicht authentisch ist. Ich bin schon längst nicht mehr die, die ich bin. Die ich sein sollte. Sein will. Es liegt an mir, dass ich das Gänsehaut-Gefühl verloren habe. Ich schaffte es nicht einzutauchen wegen all der Menschen um mich herum. Ich kann das nur, wenn ich alleine bin. Oder in der Gesellschaft ganz weniger bestimmter Menschen. Es liegt an mir.
Und auf einmal wird mir klar, wie sehr ich mich eigentlich vor der Welt verschlossen habe. Wie wenig meine Mitmenschen, meine Familie, meine Freunde eigentlich von mir wissen. Sie kennen mich eigentlich gar nicht. Und das liegt an mir.
Ich versuche mich an den Wegweiser zu erinnern; an die Wegkreuzung, an der ich falsch abgebogen bin. Doch da ist nichts, nur Leere. Und Trauer. Einsamkeit. Verlassenheit.
Ich könnte der Welt die Schuld geben. All denen, die mich zu oft verletzt haben. Die mir das Gefühl gegeben haben, nicht in Ordnung zu sein. Die mich glauben ließen, ich müsse mich anpassen, mich ändern. Die mich dazu gezwungen haben, mich zu verschließen. Meine Gefühle vor ihnen zu verbergen. Aber das hilft mir auch nicht weiter. Wut hilft nicht weiter. Zorn ebenso wenig. Und Hass schon gar nicht.
Ich frage mich, ob ich denn noch umkehren kann… Nein, es gibt kein Zurück. Kann ich mich denn noch ändern? Kann ich mich so verhalten, wie ich es möchte? Kann ich jemand sein, den plötzlich niemand mehr erkennt? Was ist mit denen, die ich schon mein halbes oder ganzes Leben lang kenne? Wie soll ich ihnen erklären, was in mir vorgeht? Werden sie es akzeptieren, werden sie es verstehen? Werden sie mir verzeihen, dass ich ihnen so lange etwas vorgemacht habe? Und werden sie mich noch kennen wollen, wenn ich ganz anders bin?

„Und ich weiß, dass du bleibst bis der Himmel mich dann ruft…“
Julian Le Play, „Wir haben noch das ganze Leben“, Melodrom

Da ist es wieder, dieses Gefühl. Ich greife danach, versuche mich zu entspannen und tatsächlich bleibt es einige Augenblicke länger als zuvor. Und da realisiere ich: Ich bin es, die mit mir leben muss. Es ist wichtiger, dass ich mich selbst erkenne, als dass die anderen das tun. Dies ist mein Leben. Mein Selbst. Meine Entscheidung. Ich kann es ändern, wenn ich will; ich kann mich ändern. Selbst wenn das bedeuten würde, dass ich alleine da stünde. Dass es kein „du“ geben würde, kein „wir“. Doch dann hätte ich immerhin mich. Das habe ich im Moment nicht. Keine leichte Entscheidung. Es braucht ganz schön viel Mut dafür.
Ich schließe für einen Moment die Augen und rufe mir diese Worte in Erinnerung. Nur dass mein Gehirn da etwas durcheinander bringt und es auf einmal heißt: „Und ich weiß, dass ich bleib‘ bis der Himmel mich dann ruft…“
Ich lächle. Die Entscheidung ist gefallen.

Silvia

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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