Bipolare Erzählung beim Deutschen Buchpreis

von | 04.10.2016 | Belletristik, Buchpranger

Im Grunde hat Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ beim Deutschen Buchpreis gar nichts verloren. Als autobiographisches Werk erfüllt es nicht die Voraussetzung, ein Roman zu sein. Doch liest sich Melles Erzählung derart spannend, tiefgründig und emotional aufwühlend, dass die Entscheidung, „Die Welt im Rücken“ auf die kürzlich veröffentlichte Shortlist zu setzen, absolut nachvollziehbar ist. Erzähldetektivin Annette durfte den manisch-depressiven Autoren in eine Welt voller Widersprüche und Tragik begleiten und miterleben, wie er sich vom eigenen Schicksal befreit.

„Ich muss mir meine Geschichte zurückerobern, muss die Ursachen, wenn sie schon nicht abbildbar sind, wenn sie sich in den Konstruktionszeichnungen nicht finden, durch exakte Beschreibungen der Unfälle emergieren lassen.“

Herr der eigenen Geschichte sein, Einfluss auf Schicksal und das eigene Leben nehmen – wer von uns hegt keine derartigen Wünsche? Bei deren Erfüllung mögen sich dem einen oder anderen Steine in den Weg legen oder Schwierigkeiten stellen. Doch alles in allem können wir ganz gut bestimmen, was wir aus unserem Leben machen wollen. Bei Thomas Melle sieht dies anders aus. Als junger Erwachsener erkrankte er an der manisch-depressiven Störung, auch Bipolarität genannt, die sein Leben seither von innen nach außen gestülpt hat. Was er in den manischen Phasen tat, schrieb und sagte bestimmt noch heute sein Selbst- und Fremdbild. In „Die Welt im Rücken“ möchte er nun seine Sicht der Dinge darstellen. Der Versuch eines Befreiungsschlages – aus der Krankheit und ihren Folgen.

Und diese Krankheit hat es in sich. Melle beschreibt den Zustand eines derart umfassenden Selbstverlustes, dass es schon während des Lesens kaum auszuhalten ist. Die erste manische Phase ereilte ihn 1999 – 2006 und 2010 sollten weitere folgen. Während die erste Psychose den Kranken auf einer Woge aus Energie und Glückseligkeit gleiten lässt, erleben Freunde und Familie den plötzlichen Sinneswandel als Tragödie. Und auch für die erkrankte Person verdreht sich die eigene Wahrnehmung und wird sehr bald zu einem angsteinflößenden, unbegreiflichen Wahn.

U1_978-3-87134-170-0.indd„Ein Fremdkörper im Fremdkörper der Welt“

Die Wahnvorstellungen äußern sich in irrationalem, lautem, effekthascherischem, narzisstischem Verhalten. Und nicht nur der Kranke hat das Gefühl, von allem und jedem getrennt zu sein. Die Irritationen bei seinen Mitmenschen hallen noch lange nach. Auch Jahre nach dem Abklingen der letzten manischen Phase begegnet Melle kaum ein neuer Mensch unvoreingenommen. Zu sehr eilt ihm ein „Ruf“ voraus. Die Krankheit vergiftet Vergangenheit und Zukunft, in der wahnhaften Gegenwart endet sie nicht selten tödlich.

Die Beschreibung der manischen Phasen ist das Kernstück des Buches. Melle spricht von einem „Gefühlsüberschuss“, mit dem alles anfange – und verdeutlicht im weiteren Verlauf mit sehr gelungener Wortwahl und Grammatik wie sich dieser Überschuss für den Betroffenen anfühlt. Wer nicht selbst eine manische Phase am eigenen Leib und Geist zu spüren bekommen hat, der wird mit Melles Erzählung so nah an dieses Erlebnis gelangen, wie möglich. Und das ist bereits fast zu nah. Denn die Wucht, mit der die Energie, die Anspannung, der Wahn über den Betroffenen hereinbrechen, fängt der Autor grandios ein: Die gleichzeitige Sinnlosigkeit und die Eruption eines neuen Sinns, der völlig auf das wahnhafte Individuum gemünzt ist. Sätze springen unkontrolliert durch seinen Kopf, Werbeslogans, Songtextzeilen, die sich zu einem wahnhaften Gedankengebäude verbinden. Er wird zum Mittelpunkt der Welt und entfernt sich gleichzeitig immer weiter von dieser. Eine spätere Manie wird Melle mit den Worten beschreiben: „Da war auch keine Sammelstelle namens Ich mehr. Da waren nur noch Qualia, Sinneseindrücke, um einen tierischen Instinkt herum, und Gott.“

Die 1999 ausgebrochene Manie ist es, die Melle erstmals in die Psychiatrie bringt. Die Länge einer derartigen Phase ist von Patient zu Patient unterschiedlich, kann einige Stunden, Tage, Wochen oder Monate dauern. In Melles Fall dauert sie über ein Jahr. Der Psychiatrie-Aufenthalt wird nicht sein letzter sein und doch scheint er eine besonders traumatische Wirkung gehabt zu haben. Und in der Tat stellt sich die Frage, wie ein Kranker in diesem „Sammelsurium von Fehlexemplaren“, wie Melle seine Mitpatienten nennt, gesunden soll. Wie soll er zur Ruhe kommen, wenn er ständig von Krankheit, Gewalt, Wut, Angst, Hass und Wahn umgeben ist? „Mit einem Schlag betritt man das Reich des Wahns, seine Gerüche, Gesichte, Gesichter und Phänotypen.“

Auf den Höhenflug folgt der Absturz

Wenn später auf die manische die depressive Episode folgt, wird Melle den Zustand der Psychiatrie als noch furchtbarer empfinden. Vor allem jedoch geht ihm nach der Überanstrengung der Manie nun völlig die Luft aus. Die Depression bringt die gesamte Gefühls- und Gedankenwelt des Erkrankten unter Kontrolle und es breitet sich eine Leere aus, die keinen Raum für irgendwie geartete Gefühle lässt. Eindrücklich und intim schildert Melle den ungeheuren Drang, das eigene Leben zu beenden, der stündlich schlimmer wird und sich jedes Gedankens bemächtigt. Wie schwer es ihm gefallen sein muss, entsprechende Versuche zu beschreiben, lässt sich kaum erahnen.

„Jeder Mensch birgt wohl einen Abgrund in sich, in welchen er bisweilen einen Blick gewährt; eine Manie aber ist eine ganze Tour durch diesen Abgrund, und was Sie jahrelang von sich wussten, wird innerhalb kürzester Zeit ungültig. Und danach fangen Sie nicht bei null an, nein, Sie rutschen ins tiefste Minus, und nichts mehr ist mit Ihnen auf verlässliche Weise verbunden.“

Besonders eindrücklich ist dabei die Beschreibung der dreigeteilten Persönlichkeit des Manisch-Depressiven. Nach den Taten des Manikers gesellt sich zu der ohnehin alles erfassenden Trauer ein stündlich schlimmer werdendes Gefühl von Scham; je mehr Erinnerungen hochkommen, desto weiter zieht es einen hinab. Einsichten in die Gedankengänge des Manikers sind nicht mehr vorhanden und der Depressive geht an dem hinterlassenen Scherbenhaufen zugrunde. Wer das Glück hat und auch diese dunkle Phase hinter sich lassen kann, der wird auch die hier herrschende Trauer und Leere nicht mehr verstehen können.

Was bleibt, ist eine Grundzerstörtheit

Auch nach der vermeintlichen Gesundung wird Melle die Krankheit nicht mehr los. Nicht nur ist das eigene Fundament verloren, möglicherweise für immer. Darüber hinaus ist die Bipolarität eine rezidivierende Krankheit. Zwar tritt sie nur schubweise auf, das heißt, dass es durchaus beschwerdefreie Phasen geben kann. Doch besteht die Gefahr, in eine depressive oder manische Phase zurückzufallen, ein Leben lang, was eine medikamentöse Therapie für den Rest des Lebens notwendig macht. Dennoch setzt Melle die Tabletten zunächst nach einiger Zeit wieder ab, denn er glaubt an ein angeschlagenes, aber von jetzt an doch krankheitsfreies Leben. Die folgenden manischen Episoden werden ihn noch näher an den Abgrund bringen.

Von der letzten Manie 2010 erholt er sich nicht mehr ganz, behält eine „Grundzerstörtheit“ zurück. Sein Leben sei von einer Tristesse durchzogen, die zwischen undurchdringlichem Schwarz und leichtem Graufilter changiert, jedoch niemals verschwindet. Der Einfluss auf seine schriftstellerische Arbeit ist extrem: Auf der einen Seite hat ihn die Krankheit Dinge erleben lassen, die er im gesunden Zustand niemals erfahren hätte. Auf der anderen Seite dämpfen die Medikamente Wahrnehmung und Wortfindung und lassen ihn auch beim Schreiben mögliche Gefühlswallungen unterdrücken. Dennoch ermöglichen ihm eben diese Medikamente ein Stück Normalität, auf die er andernfalls keine Chance hätte.

Letztendlich kommt Melle zu keinem sehr positiven Schluss: „Die bipolare Störung hat sich zwischen mich und alles gestellt, was ich sein wollte. Sie hat das Leben verunmöglicht, das ich leben wollte, selbst wenn ich von diesem kaum einen Begriff hatte.“ Treffender wäre jedoch zu sagen: Die Veranlagung zur Krankheit war schon immer da. Eine Grund-Vulnerabilität, eine Grund-Verletzlichkeit, zeichnete den jungen Melle schon immer aus. Von klein auf hat er das Gefühl, nicht in die Welt zu passen, anders zu sein als alle anderen, „ständig einen Abstand zwischen der Welt und [sich selbst] überwinden zu müssen“. Sich euphorisch in Dinge hineinzusteigern, die dann ebenso schnell wieder fallen gelassen werden.

logo_dbp16Mehr als nur die Krankheit

Melle setzt sich detailliert und so ehrlich, weil intim, wie möglich, mit der Krankheit, ihrem Ursprung und ihren Folgen auseinander. Dabei lässt er sich jedoch nicht rein über seine Bipolarität definieren. Denn obwohl er mittlerweile eine Einsicht in sein Kranksein erlangt hat, ist für ihn nicht klar, was tatsächlich Krankheit, was hingegen die gesellschaftliche Zuschreibung angeblich abnormalen Verhaltens ist. Ist die Vulnerabilität mögliche Ursache, vielleicht auch Symptom oder einfach Teil seiner Wesensart? Er berichtet aus seiner dramatischen Kindheit ebenso wie von der früh erblühenden Liebe zur Literatur, die ihm über diese Traumata hinweghilft. Der Buchtitel bezieht sich einerseits auf diesen positiven Aspekt der großen Bibliothek im Rücken seines Arbeitstisches. Andererseits bezieht sich der Titel auch auf das manisch-wahnhafte Gefühl, „die ganze Welt (…), die ganze Geschichte“ im Rücken zu haben.

Hervorzuheben ist noch der immense Wissensschatz, über den Melle verfügen muss. Während der Lektüre entsteht beinahe der Eindruck, er habe sämtliche Literatur gelesen und Musik gehört, sämtliche Live-Konzerte und Theaterstücke besucht und Filme gesehen. Immer wieder spickt er den Text mit entsprechenden Anspielungen und Zitaten, die ich selbst nur zu einem Bruchteil verstanden oder erkannt habe. Umso trauriger, dass er mittlerweile kaum noch Begeisterung für die alten Lieben aufbringen kann.

Wer Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ lesen möchte, braucht starke Nerven. Leser sollten in sich gefestigt sein, zu leicht könnten die Beschreibungen von Wahn und Leid derartige Gefühle und Gedanken triggern. Wer sich auf die Grenzerfahrung eines Manisch-Depressiven einlassen kann, wird belohnt mit einer präzisen, clever eingesetzten Sprache, einem reichen Bouquet popkultureller und literarischer Referenzen und der sensiblen Beschreibung einer Person die so viel mehr ist, als nur eine markerschütternde Krankheit.

Die Welt im Rücken. Thomas Melle. Rowohlt Berlin. 2016.

[tds_note]Thomas Melle kommt mit „Die Welt im Rücken“ auf Lesereise. Termine und weitere Infos findet ihr hier:
rowohlt.de/autor/thomas-melle.html[/tds_note]

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