Aufklärung und Empowerment

von | 24.08.2020 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Linus Giese ist in der Buchblogszene mit seinem Blog Buzzaldrins Bücher schon lange bekannt. Nun hat er ein eigenes Buch veröffentlicht, das eine wichtige Nische besetzt: Er erzählt offen, ungeschönt und direkt von seinem Weg, der Mann sein zu können, der er schon immer war. – Von Satzhüterin Pia

Wie wichtig vielen Menschen das Geschlecht anderer ist, wurde mir erst so richtig bewusst, als ich schwanger war: „Was wird es denn?“ war die ewig zu erwartende Frage. „Ein Baby“, meine Antwort. Mehr wusste ich sowieso nicht, wir waren „Team Überraschung“ und offensichtlich war das ungewöhnlich. Dass die ewige Zuordnung von Geschlechtern nicht nur nervig, sondern auch schädlich sein kann, macht die Geschichte von Linus Giese deutlich.

„Als ich heranwuchs, brachte ich diesen Jungen zum Schweigen – er musste verschwinden, weil er mich in Schwierigkeiten brachte und weil ich befürchtete, dass sich andere vor ihm ekeln könnten. […] Jeder Blick in den Spiegel war eine Qual, mein Körper fühlte sich falsch an, meine Kleidung hing wie etwas Fremdes an mir herunter, und meine Frisur habe ich gehasst. Denn in all den Jahren habe ich nicht gewusst, dass ich dieser Junge sein darf, dass das, was ich mir wünsche, tatsächlich erlaubt ist – und von niemandem bestraft wird.“ (S.33)

Seine Geschichte erzählt er offen und unverblümt. Und er macht deutlich, dass es seine Geschichte ist. Es gibt nicht DIE Geschichte der trans Menschen. Im Großen und Ganzen geht Giese chronologisch vor, hin und wieder springt er zurück, greift vor, und der Text entwickelt eine Dynamik, die es mir als Leserin schwer macht, das Buch zwischendurch aus der Hand zu legen. Nur noch ein Kapitel, das ist ja nicht lang. Ich habe schon sehr lange kein Buch mehr so verschlungen. Woran liegt das, richtet sich das Buch denn eigentlich an Menschen (cis, het, weiblich und weiß) wie mich?

Jein, würde ich sagen. „Ich bin Linus“ ist voll von Empowerment für diejenigen, die es dringend gebrauchen können. Die Geschichten von trans Menschen sind bisher kaum in medialer Form aufbereitet worden. Viele trans Personen vermeiden es, zu viel Gesicht zu zeigen, ihre Stimmen zu erheben, sichtbar zu werden. Hass und Übergriffigkeiten jeglicher Art und ungeahnter Ausmaße muss auch Linus Giese über sich ergehen lassen. Darüber hinaus gibt es eine Menge Hintergrundinformationen. Was ist eigentlich „cis“? Was ist „Deadnaming“ und wieso sollten dies sowie viele andere Dinge bitte unterlassen werden? Sprache schafft Realitäten, sie grenzt aus und schließt ein, sie kann auch gewaltvoll sein. Das gilt für alles und jeden, aber besonders für marginalisierte Personengruppen.

„Lesen hilft! Also herzlichen Glückwunsch zum Erwerb dieses Buches.“ (S. 186)

Linus Giese greift wichtige Begriffe auf, erklärt Hintergründe und stellt viele Fragen. An sich selbst, aber auch generelles Hinterfragen: Warum soll er zum Beispiel erklären, warum/seit wann er weiß, dass er ein trans Mann ist, wenn doch cis Personen niemandem Rechenschaft schuldig sind, sich nicht erklären müssen? Also vielleicht doch kein „Jein“ – sondern vielmehr ein „unbedingt“! „Ich bin Linus“ richtet sich an jede Person, die interessiert ist, mehr zu erfahren. Personen, die entsprechendes Empowerment gebrauchen können und die, die sich informieren und dazu lernen möchte.

„Das beginnt schon bei der Tatsache, dass viele Kleinkinder mit bestimmten Geschlechtervorstellungen in Berührung kommen.“ (S.117)

Das Buch liest sich, als wäre es frei von der Seele geschrieben worden – vermutlich ist es das größtenteils auch, während dem Autor andere Passagen schwer gefallen sein werden. Es ist von Anfang bis Ende sehr authentisch – wenig Lektorat, das in die Geschichte einzugreifen scheint. Die verschiedenen Themen werden ungeschönt geschildert – ob es um den Körper geht, die Liebe und Selbstliebe, Hass und Übergriffigkeiten anderer oder auch die eigene Abscheu, Linus Giese nimmt seine Leserinnen und Leser voll und ganz mit. Er nimmt sie mit auf seine Reise, die nicht die Reise eines jeden trans Menschen, aber doch unendlich lehrreich und ergreifend ist.

„Ich möchte mir kein Geschlecht erobern, ich möchte Männlichkeit komplett vernichten und mit meinen eigenen Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen ersetzen.“ (S. 118)

Und jetzt werde ich wohl eine Wagenladung von „Ich bin Linus“ bestellen – und verschenken. An Menschen, die dringend etwas Bildung über ihren kleinen, begrenzten „(old-)white-man-cis-het-Tellerrand“ benötigen.

Ich bin Linus. Linus Giese. Rowohlt Polaris. 2020. // Foto: Satzhüterin Pia.

 

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