Aufklärung und Empowerment Autobiografie eines trans Mannes: „Ich bin Linus“

by Satzhüterin Pia

Linus Giese ist in der Buch­blog­szene mit sei­nem Blog Buzz­al­drins Bücher schon lange bekannt. Nun hat er ein eige­nes Buch ver­öf­fent­licht, das eine wich­tige Nische besetzt: Er erzählt offen, unge­schönt und direkt von sei­nem Weg, der Mann sein zu kön­nen, der er schon immer war. – Von Satz­hü­te­rin Pia

Wie wich­tig vie­len Men­schen das Geschlecht ande­rer ist, wurde mir erst so rich­tig bewusst, als ich schwan­ger war: „Was wird es denn?“ war die ewig zu erwar­tende Frage. „Ein Baby“, meine Ant­wort. Mehr wusste ich sowieso nicht, wir waren „Team Über­ra­schung“ und offen­sicht­lich war das unge­wöhn­lich. Dass die ewige Zuord­nung von Geschlech­tern nicht nur ner­vig, son­dern auch schäd­lich sein kann, macht die Geschichte von Linus Giese deutlich.

„Als ich her­an­wuchs, brachte ich die­sen Jun­gen zum Schwei­gen – er musste ver­schwin­den, weil er mich in Schwie­rig­kei­ten brachte und weil ich befürch­tete, dass sich andere vor ihm ekeln könn­ten. […] Jeder Blick in den Spie­gel war eine Qual, mein Kör­per fühlte sich falsch an, meine Klei­dung hing wie etwas Frem­des an mir her­un­ter, und meine Fri­sur habe ich gehasst. Denn in all den Jah­ren habe ich nicht gewusst, dass ich die­ser Junge sein darf, dass das, was ich mir wün­sche, tat­säch­lich erlaubt ist – und von nie­man­dem bestraft wird.“ (S.33)

Seine Geschichte erzählt er offen und unver­blümt. Und er macht deut­lich, dass es seine Geschichte ist. Es gibt nicht DIE Geschichte der trans Men­schen. Im Gro­ßen und Gan­zen geht Giese chro­no­lo­gisch vor, hin und wie­der springt er zurück, greift vor, und der Text ent­wi­ckelt eine Dyna­mik, die es mir als Lese­rin schwer macht, das Buch zwi­schen­durch aus der Hand zu legen. Nur noch ein Kapi­tel, das ist ja nicht lang. Ich habe schon sehr lange kein Buch mehr so ver­schlun­gen. Woran liegt das, rich­tet sich das Buch denn eigent­lich an Men­schen (cis, het, weib­lich und weiß) wie mich?

Jein, würde ich sagen. „Ich bin Linus“ ist voll von Empower­ment für die­je­ni­gen, die es drin­gend gebrau­chen kön­nen. Die Geschich­ten von trans Men­schen sind bis­her kaum in media­ler Form auf­be­rei­tet wor­den. Viele trans Per­so­nen ver­mei­den es, zu viel Gesicht zu zei­gen, ihre Stim­men zu erhe­ben, sicht­bar zu wer­den. Hass und Über­grif­fig­kei­ten jeg­li­cher Art und unge­ahn­ter Aus­maße muss auch Linus Giese über sich erge­hen las­sen. Dar­über hin­aus gibt es eine Menge Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen. Was ist eigent­lich „cis“? Was ist „Dead­naming“ und wieso soll­ten dies sowie viele andere Dinge bitte unter­las­sen wer­den? Spra­che schafft Rea­li­tä­ten, sie grenzt aus und schließt ein, sie kann auch gewalt­voll sein. Das gilt für alles und jeden, aber beson­ders für mar­gi­na­li­sierte Personengruppen.

„Lesen hilft! Also herz­li­chen Glück­wunsch zum Erwerb die­ses Buches.“ (S. 186)

Linus Giese greift wich­tige Begriffe auf, erklärt Hin­ter­gründe und stellt viele Fra­gen. An sich selbst, aber auch gene­rel­les Hin­ter­fra­gen: Warum soll er zum Bei­spiel erklä­ren, warum/seit wann er weiß, dass er ein trans Mann ist, wenn doch cis Per­so­nen nie­man­dem Rechen­schaft schul­dig sind, sich nicht erklä­ren müs­sen? Also viel­leicht doch kein „Jein“ – son­dern viel­mehr ein „unbe­dingt“! „Ich bin Linus“ rich­tet sich an jede Per­son, die inter­es­siert ist, mehr zu erfah­ren. Per­so­nen, die ent­spre­chen­des Empower­ment gebrau­chen kön­nen und die, die sich infor­mie­ren und dazu ler­nen möchte.

„Das beginnt schon bei der Tat­sa­che, dass viele Klein­kin­der mit bestimm­ten Geschlech­ter­vor­stel­lun­gen in Berüh­rung kom­men.“ (S.117)

Das Buch liest sich, als wäre es frei von der Seele geschrie­ben wor­den – ver­mut­lich ist es das größ­ten­teils auch, wäh­rend dem Autor andere Pas­sa­gen schwer gefal­len sein wer­den. Es ist von Anfang bis Ende sehr authen­tisch – wenig Lek­to­rat, das in die Geschichte ein­zu­grei­fen scheint. Die ver­schie­de­nen The­men wer­den unge­schönt geschil­dert – ob es um den Kör­per geht, die Liebe und Selbst­liebe, Hass und Über­grif­fig­kei­ten ande­rer oder auch die eigene Abscheu, Linus Giese nimmt seine Lese­rin­nen und Leser voll und ganz mit. Er nimmt sie mit auf seine Reise, die nicht die Reise eines jeden trans Men­schen, aber doch unend­lich lehr­reich und ergrei­fend ist.

„Ich möchte mir kein Geschlecht erobern, ich möchte Männ­lich­keit kom­plett ver­nich­ten und mit mei­nen eige­nen Vor­stel­lun­gen, Wün­schen und Bedürf­nis­sen erset­zen.“ (S. 118)

Und jetzt werde ich wohl eine Wagen­la­dung von „Ich bin Linus“ bestel­len – und ver­schen­ken. An Men­schen, die drin­gend etwas Bil­dung über ihren klei­nen, begrenz­ten „(old-)white-man-cis-het-Tellerrand“ benötigen.

Ich bin Linus. Linus Giese. Rowohlt Pola­ris. 2020. // Foto: Satz­hü­te­rin Pia.

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