Auf der Jagd nach einem nationalen Heiligtum

by Bücherstadt Kurier

Gemein­sam mit dem jun­gen Stu­den­ten Val­de­mar begibt sich ein islän­di­scher Pro­fes­sor auf die Suche nach dem „Codex Regius“, der wich­tigs­ten islän­di­schen Hand­schrift des Mit­tel­al­ters, um sie der eige­nen Nation wie­der­zu­ge­ben. Doch auch ein Alt-Nazi erhebt Anspruch auf das Buch und geht dafür über Lei­chen. Bücher­städ­ter Flo­rian Fabozzi taucht ein in das Europa der Nach­kriegs­zeit und ver­folgt die Suche eines heiß begehr­ten Buches.

1955: der junge Stu­dent Val­de­mar zieht von der hei­mi­schen Idylle im Nord­os­ten Islands in das leben­dige Kopen­ha­gen, um an der dor­ti­gen Uni­ver­si­tät sein Stu­dium in nor­di­scher Phi­lo­lo­gie fort­zu­set­zen. Seine Vor­freude auf das Stu­dium wird gedämpft, als er erst­mals sei­nen Pro­fes­sor trifft. Ein rüder und ver­bit­ter­ter Mann mit einem augen­schein­li­chen Alko­hol­pro­blem. Nach­dem es Val­de­mar jedoch gelingt, den Pro­fes­sor von sei­nen Fähig­kei­ten im Lesen von Hand­schrif­ten zu über­zeu­gen, gewinnt er sein Ver­trauen und erkennt hin­ter der har­ten Schale einen ver­wun­de­ten Kern.

Der Pro­fes­sor weiht ihn in ein erschüt­tern­des Geheim­nis ein: Unter Druck gab er einst den Codex Regius, das wich­tigste Buch Islands, in die Hände der Nazis. Inzwi­schen, nach Been­di­gung des Zwei­ten Welt­kriegs, ist es ver­schol­len, doch einige Alt-Nazis, denen einst die Flucht gelang, möch­ten das islän­di­sche Hei­lig­tum wie­der an sich rei­ßen. Der Pro­fes­sor hat es zu sei­ner Lebens­auf­gabe gemacht, ihnen zuvor­zu­kom­men und sei­nen ver­häng­nis­vol­len Feh­ler wie­der aus­zu­bü­geln. Der anfangs zöger­li­che Val­de­mar, der sich einen Stu­di­en­all­tag mit vie­len Büchern in einer ruhi­gen Stube erhofft hatte, wird von sei­nem Pro­fes­sor in einen Stru­del von unheil­vol­len Ereig­nis­sen hin­ein­ge­zo­gen, der beide nach Deutsch­land führt. Stück für Stück kom­men sie dem Buch näher, doch damit auch ihren Fein­den. Es kommt zum Showdown.

Um „Codex Regius“ wert­schät­zen zu kön­nen, emp­fiehlt sich eine gewisse Affi­ni­tät zu nor­di­scher Lite­ra­tur und zur Gra­pho­lo­gie. Denn bevor die Geschichte Fahrt auf­nimmt und eines „Thril­lers“ wür­dig wird, ist es die Geschichte eines Phi­lo­lo­gie­stu­den­ten, der mit einem vom Leben gezeich­ne­ten Pro­fes­sor mit­tel­al­ter­li­che Lite­ra­tur­for­schung betreibt. Lang­sam wer­den die Leser in den For­schungs­all­tag des Pro­fes­sors ein­ge­führt, doch län­gere Abschnitte über For­schungs­me­tho­den und Ver­wandt­schafts­ver­hält­nisse von Per­so­nen des Mit­tel­al­ters machen die Lek­türe zu einer zähen Angelegenheit.

Jäger und Gejagte

Erst als der Pro­fes­sor und Val­de­mar aktiv zur Tat schrei­ten, wer­den die Leser in den Sog der Geschichte gezo­gen. Bei ihren Nach­for­schun­gen im Nach­kriegs­zeit­deutsch­land wird die Ver­zweif­lung der vom Krieg geplag­ten Bewoh­ner sehr authen­tisch dar­ge­stellt; wie Detek­tive fol­gen die bei­den Prot­ago­nis­ten jedem kleins­ten Hin­weis und nähern sich dem Buch der Begierde. Als erst­mals Mord­fälle ans Licht kom­men, fin­den Val­de­mar und der Pro­fes­sor sich in der ambi­va­len­ten Dop­pel­rolle der Jäger und der Gejag­ten wie­der – der Span­nungs­bo­gen erreicht den Höhepunkt.

Das große Finale ist gut insze­niert, doch viele Gescheh­nisse sind vor­her­seh­bar, nur sel­ten wer­den die Leser in die Irre geführt. Hier ist man vom Kri­mi­au­to­ren Arnal­dur Indriða­son Bes­se­res gewohnt. In einer Sache ist Indriða­son sich jedoch treu geblie­ben: sei­ner Liebe zum Maka­bren. Dies wird deut­lich, wenn plötz­lich Grä­ber geschän­det werden.

Gelun­gen ist die Ein­bet­tung der fik­ti­ven Geschichte in den rea­len Kon­text, einem Vor­ha­ben, bei dem sich schon viele Autoren die Fin­ger ver­brannt haben. Die Ver­stri­ckung des islän­di­schen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gers Hall­dor Lax­ness in den Thril­ler ist char­mant und wirkt nicht überzogen.

Ein zen­tra­les Thema in dem Buch ist die Beses­sen­heit, die kein ande­rer mehr ver­kör­pert, als der alte Pro­fes­sor, ein viel­schich­ti­ger Cha­rak­ter, der sein Leben für den Schutz des Codex Regius opfern würde. Die Beses­sen­heit von einem sol­chen Buch lässt sich mit der Rolle der Lite­ra­tur in Island erklä­ren. Hand­schrif­ten aus dem Mit­tel­al­ter sind das größte Kul­tur­gut der Islän­der, einem Volk der Autoren, das sich his­to­risch allein durch seine rei­che Lite­ra­tur und Mytho­lo­gie defi­niert. Es ist kein Zufall, dass der bekannte Spruch „Lie­ber bar­fuß als ohne Buch“ seine Wur­zeln auf der Vul­kan­in­sel hat. Auf dem Papier ist Island zur Zeit der Hand­lung bereits seit 11 Jah­ren unab­hän­gig – doch gefühlt sind sie es erst dann, wenn sich der Codex Regius in hei­mi­schen Gefil­den befin­det, dort, wo sein ange­stamm­ter Platz ist.

Ein Ring von sol­cher Pracht

Bei den Ant­ago­nis­ten han­delt es sich um ein paar Alt­na­zis, die das Buch mit der­sel­ben Beses­sen­heit jagen, wie die Prot­ago­nis­ten. Ihre Beses­sen­heit basiert auf der Ras­sen­ideo­lo­gie des deut­schen Reichs, in dem der nor­di­sche Mensch und seine Kul­tur zum Ideal erho­ben wurde. Alles Nor­di­sche, von Runen bis hin zu alten Mythen, war für die Nazis, die sich die Kul­tur aneig­ne­ten und sie unter einen „groß­deut­schen Schirm“ stell­ten, von unschätz­ba­rem Wert. Die tiefe Abnei­gung des Pro­fes­sors gegen­über den Nazis liegt in deren Miss­brauch und Per­ver­tie­rung der nor­di­schen Mytho­lo­gie begrün­det. Die Ant­ago­nis­ten sind somit glaub­haft, ihre Beweg­gründe klar ausgearbeitet.

Schön sind die Par­al­le­len zur nor­di­schen Mit­tel­al­ter­li­te­ra­tur. Die Rolle des Codex Regius erin­nert an die des Rin­ges „And­var­anaut“ im sel­bi­gen. Der Ring ist von sol­cher Pracht, dass jeder hin­ter ihm her ist und über ihn ver­fü­gen will. Doch gleich­zei­tig ist er mit einem Fluch belegt und bringt den Besit­zern den Tod. In die­sem Werk sind es die Sucher des Codex Regius, die eine Blut­spur hin­ter sich herziehen.

Indriða­son ver­mischt in „Codex Regius“ geschickt Fik­tion und Rea­li­tät, por­trä­tiert die Iden­ti­tät einer jun­gen Nation und ihr Selbst­ver­ständ­nis, und gibt die Atmo­sphäre im Europa der Nach­kriegs­zeit authen­tisch wie­der. Die Geschichte kommt jedoch nur schwer in Fahrt, ist zum Teil sehr vor­her­seh­bar und ein Inter­esse am hohen Nor­den, so scheint es, ist eine Vor­aus­set­zung für den Lesegenuss.

Codex Regius. Arnal­dur Indriða­son. Über­set­zung: Coletta Bür­ling. Bas­tei Lübbe. 2008.

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