Am Ende der Gleise

by Bücherstadt Kurier

Ich bre­che aus dem Wald; mein Blut tropft in den Novem­ber­schnee; es ist furcht­bar kalt. Blu­tige Fuß­spu­ren. Ich stol­pere, taumle, wanke – ver­liere den Halt, als ich über den Schie­nen­strang der 47er auf die Gleise stürze. Ich richte mich auf, der weiße Tod ist über­all. Eine Schuss­wunde. Eine Bauch­wunde. Meine Wunde. Ich denke, dass sie töd­lich ist, doch darf ich die­sen Gedan­ken jetzt nicht zulas­sen, muss mich ans Leben klammern!

Das erin­nert mich an mei­nen Vater: Er war eine Kaker­lake! Immer fokus­siert und starr­sin­nig. Er hatte einen eiser­nen Wil­len. Er würde nicht abschwei­fen, son­dern auf­ste­hen und kämp­fen! Die DDR auf­bauen, den Arbei­ter und Bau­ern­staat ver­tei­di­gen, hun­gern und frie­ren: Er hatte sei­nen Platz gefun­den. Als dann 89 die Mauer fiel, war mein Alter erle­digt. Er wusste es noch nicht, er blieb ein­fach er selbst, er blieb eine Kaker­lake. Er zer­brach daran, man fand den alten Revo­luz­zer in einem Park in Ber­lin Span­dau, im Win­ter ganz kalt, fast tot. Der Kapi­ta­lis­mus hatte seine rote Seele gefres­sen. Er war stark, weil er an etwas glaubte, doch ich ahnte, dass die Demo­kra­ten recht hat­ten, wenn sie von Kom­pro­mis­sen sprachen.

Als die letzte Kaker­lake im kapi­ta­lis­ti­schen Deutsch­land erfro­ren war, war klar, dass die alten Regeln ihre Gül­tig­keit ver­lo­ren hat­ten. Doch was waren die neuen Regeln? Ich musste raus, über die offe­nen Gren­zen in die Welt. Ich las in Staa­ken immer die West­zei­tun­gen. So stieß ich schließ­lich auf einen Geschäfts­mann, den sie den „Pfen­nig­fuch­ser“ nann­ten, einer der ganz skru­pel­los die meis­ten Genos­sen auf­ge­kauft hatte. Er war in kür­zes­ter Zeit sehr reich gewor­den. Eine Gän­se­haut über­lief mich: Hier war ich rich­tig! Ich stopfte die Zei­tung in meine Tasche und eilte nach Hause. Ohne mich von mei­nem Vater zu ver­ab­schie­den, ver­ließ ich die ehe­ma­lige DDR. Er schlief noch. Ich zog die Tür hin­ter mir zu. Drau­ßen griff ich in die Man­tel­ta­sche und holte Vaters letzte 50 Mark her­vor. Er hätte sie mir nie frei­wil­lig gege­ben. Wieso auch, wir waren immer arm gewe­sen. Ich bin arm. Ich wusste, dass man in die­ser Welt reich wer­den konnte: Träume von Amerika.

Ame­rika! Die Lich­ter wer­fen gol­dene Reflek­tio­nen auf das Dun­kel des Was­sers. Eine große Stadt erhebt sich vor mir. Sie dampft, sie raucht und sie ist laut. Sie muss laut sein, auch wenn man hier drau­ßen noch nichts davon hört. Die Lich­ter. Hun­derte, Tau­sende. Es ist eine Pracht, es ist gewollt; es ist Prah­le­rei. Die Wel­len schla­gen gegen den Bug. Neben mir die ande­ren Pas­sa­giere. Und da kommt sie. Da steht sie: Die Sta­tue: Die Frei­heit. Ich klam­mere mich an die Reling. Ich mus­tere sie. Ich weiß es geht bergauf.

Als ich an Land gehe, bemerke ich, dass sich ein Split­ter in meine Hand gebohrt hat. Ich bin noch immer arm. Am Anfang mache ich für Geld eigent­lich alles. Ich bin nicht alleine. Wir sind eine graue Masse. Wir fal­len nicht auf, und wenn doch, geht es schlimm für uns aus. Wir ducken uns. Wir leben zusam­men. Wir ken­nen uns. Man kann den Jungs ver­trauen. Meis­tens. Ich ziehe immer wie­der los, bin jeden Tag auf den Bei­nen. Kei­ner hier ist so flei­ßig wie ich, des­halb habe ich immer ein paar Ziga­ret­ten mehr, die ich groß­zü­gige teile. Wir spre­chen mit­ein­an­der und schie­ben uns Auf­träge zu. Manch­mal doziere ich über die Roten. Dann schwei­gen die ande­ren und ihre ver­dreck­ten Köpf­chen nicken mir zu. Nur eine Stra­te­gie: So komme ich an die North Rail Eisen­bahn­ge­sell­schaft. Einer der Jungs hat dort eine Anstel­lung mit bür­ger­li­chem Lohn. Da sie noch einen suchen, zieht er mich ins Ver­trauen und nimmt mich mit. Mich kann er wegen Groß­va­ter Iljitsch leiden.

Den Men­schen zu gefal­len lernte ich beim Pfen­nig­fuch­ser: Ich hatte mich gefragt, was ihn so sehr von der roten Kaker­lake unter­schied, und war hin­ge­fah­ren. Meine Arbeit war, das Haus ordent­lich zu hal­ten. Ein­mal wollte ich ihn anspre­chen, ihn fra­gen, ihn ken­nen­ler­nen, sein Geheim­nis erfah­ren, doch er ließ mich mit einer klei­nen Höf­lich­keit ste­hen. Er ging über den Kies­weg und ein ande­rer Junge hielt ihm die Tür des Wagens auf. Er hatte mich gar nicht beach­tet. Ich bewun­derte seine Würde und begann, eine Obses­sion für ihn zu ent­wi­ckeln. Ich sprach mit den Leu­ten im Dorf. Beson­ders das Auf­kau­fen der Ost­deut­schen Fir­men hatte ihn als „har­ten Hund“ berüch­tigt gemacht. Er pfiff auf die öffent­li­che Mei­nung, er war ziel­stre­big und kon­se­quent: eine Kaker­lake. Ich durch­suchte auch sein Haus und fand schließ­lich einen Ord­ner mit alten Zei­tungs­ar­ti­keln. Beim Lesen wurde mir klar, dass die­ser Mann kei­nes­wegs auf die Mei­nung der Öffent­lich­keit pfiff. Er tat es nur, wenn der Gewinn groß genug war. Davor war er ein wohl­ha­ben­der, aber unauf­fäl­li­ger Mann gewe­sen. Jemand, der Prin­zi­pien hat, der in die Kir­che geht; jemand, von dem man nicht erwar­tet, dass er so etwas tun würde. Die Men­schen beschrie­ben ihn wie eine Kaker­lake. Der Unter­schied zu mei­nem Vater war der, dass er keine sein musste. Er war frei. Er konnte ein­len­ken und ein demo­kra­ti­scher Katho­lik sein oder erbar­mungs­los zuschla­gen und stur auf sein Ziel behar­ren. Das ein­zige, was kon­stant war, war die Stei­ge­rung des Gewinns. Für ihn ging es immer berg­auf. Mein Vater hin­ge­gen war nie frei gewe­sen. Er hatte einen Weg und als die­ser zu Ende war, ging es auch mit ihm bergab.

Ich mochte Lenin nie, aber in NYC hat er mir gehol­fen, der Junge – ich glaube er hieß Jimmy – hatte an mich gedacht. Ich ver­stand mich ja so gut mit ihm – er muss ver­wirrt gewe­sen sein, als ich mich mit der Auf­se­he­rin C. noch bes­ser ver­stand. Wo war Lenin hin? Ich lachte. Und schon fahre ich mit ihr durchs Land.

C. bewun­dert meine Klug­heit: Ein Mann wie ich solle kei­nen Hun­ger lei­den. Sie ver­schafft mir eine Anstel­lung bei der Bahn. Ihr Vater ist lei­ten­der Beam­ter im Stre­cken­bau­amt und hat gute Bezie­hun­gen zu allen Eisen­bahn­ge­sell­schaf­ten im Nord­os­ten. Ich lerne ihn eines Tages auf sei­ner Veranda ken­nen. Er sitzt in sei­nem Schau­kel­stuhl und raucht eine Zigarre. Länd­lich geklei­det. Wir spre­chen bis in die Nacht hin­ein, bei­läu­fig stellt er mir eine Anstel­lung in Aus­sicht, ich ver­spüre ein Kribbeln.

Ich komme die nächs­ten Monate immer wie­der zu den Fischers. C. deckt schwei­gend den Tisch. Der Alte will mir die Anstel­lung noch nicht geben, frei­lich ködert er mich – will er, dass ich ihn frage? Ist es ein Test? Ein ana­ly­ti­scher? C. sitzt mit am Tisch, manch­mal mus­tert sie mich. Ich werde para­noid, doch ich erin­nere mich: Ich bin eine Kaker­lake. Ich beiße die Zähne fest zusam­men, ich werde den Scheiß­kerl schon noch bestei­gen. Ich bleibe freund­lich, nett, elo­quent und unter­halte ihn so gut ich es vermag.

Zwi­schen­zeit­lich reise ich mit der Bahn durch den gan­zen Osten. Alle paar Wochen komme ich dann zu den Fischers, wir spre­chen den gan­zen Abend, ich führe meine Tänze auf und er applau­diert, schaut mich lis­tig an, ködert mich. Seine Toch­ter neben uns am Tisch, wenn wir fer­tig geges­sen haben, räumt sie den Tisch ab, bringt das Geschirr in die Küche. Es trifft mich wie der Schlag. Ich ver­stehe. Gerade ist sie in der Küche ver­schwun­den, ich schaue Mr. Fischer an, ich höre das Geschirr klap­pern, zögere nicht, bitte ihn um die Hand sei­ner Tochter.

Ich arbeite für den Staat und trage ihren Namen auf der Brust. Wir ver­die­nen und leben gut, C. hat ein schö­nes Anwe­sen ein­ge­bracht. Es geht berg­auf! Bis ich den Bau der Schie­nen­stre­cke nach North Dakota stoppe. Die Ver­träge waren schon geschrie­ben, aber wenn ich nicht abge­bro­chen hätte, wäre es ein Mil­lio­nen­grab gewor­den, auf dem mein Name gestan­den hätte. Unpo­pu­lär. Der Chef zwang mich vor die Kame­ras: Es lohnt sich nicht. Jemand hat sich ver­rech­net, die ent­täusch­ten Erwar­tun­gen tun uns leid, – nein, wir geben keine Namen raus. Eine halbe Mil­lion Arbeits­plätze sind natür­lich schmerz­lich, aber beden­ken Sie, es wären nur befris­tete Ver­träge gewe­sen. Ob ich denn kein Herz hätte? Keine Stel­lung­nahme zur Gewis­sens­frage. Bitte? Nein, eine Behörde um Arbeit zu schaf­fen sind wir nicht. Es geht hier nicht um Herz, es geht um den Ver­stand, den kann ich Ihnen nur wärms­tens anemp­feh­len. Bitte? Danke. Nein, der Staat ist nicht der Mei­nung, in der Pflicht zu ste­hen. Das Ein­zel­schick­sal spielt hier keine Rolle, wir den­ken in grö­ße­ren Maß­stä­ben. Las­sen Sie mich bitte durch – ich bin nur der Ent­schei­dungs­trä­ger. Ihre Fra­gen sind längst beant­wor­tet, wie schon gesagt.

Ich sitze im Zug nach North Dakota, es ist stür­misch drau­ßen. Der Schnee fällt. Alles ging sehr schnell. Ein Auf­schrei! Selbst der Prä­si­dent hat sich dazu geäu­ßert. Er sei ent­setzt über das Ver­hal­ten eini­ger Staats­die­ner, der Appa­rat müsse gesäu­bert wer­den. Er hatte allen Erns­tes „gesäu­bert“ gesagt! Eine Ent­schul­di­gung im Namen des Staa­tes. Ich steige aus, ein dun­kel geklei­de­ter Herr nimmt mich in Emp­fang und führt mich zum Wagen. Ich werde diese Rede hal­ten und dann ver­schwin­den. Der Fah­rer bremst ruck­ar­tig. Mein Kopf knallt gegen den Vor­der­sitz. Ich flu­che, sehe auf. Vor dem Fens­ter: Ein dre­cki­ger Junge: Ein lau­ter Knall! Schmer­zen, Blut. Ich stürze aus dem Wagen, taumle auf den Wald zu. Ein wei­te­rer Schuss. Ich tau­mele wei­ter. Halte mich fest, stütze mich ab. Atme tief ein. Ich bin eine Kaker­lake. Jimmy. Alles dreht sich, ich bin alleine, schleppe mich vor­wärts, stürze in das Gleis­bett der 47er.

Was ist pas­siert? Bin ich ein­ge­schla­fen? Wie lange war ich weg? Es war als würde ich ein­schla­fen. Ich richte mich auf. Mir ist warm, sehr warm. Den Mör­der sehe ich nir­gendwo. Ich ver­su­che mich zu erhe­ben, doch es geht nicht. Es ist die 47er kurz vor Kanada, ich bin am Ende der Gleise. Ich bin am Ende! Ich weiß es. Ich sinke wie­der zurück. Kraft­los. End­lich. Ich frage mich, ob mich mein Vater wohl ver­fluchte, als er sein Leben im ber­li­ne­ri­schen Neu­schnee ver­lor. Ein Rat­tern, ein Pfei­fen. Hier fah­ren Züge? Ich spüre die Schein­wer­fer, ich höre ein Brems­ge­räusch. Der Lok­füh­rer wird für Wochen aus­fal­len... Wenigs­tens hat er mit jeder Tat etwas gelebt, wirk­lich geglaubt... Ich habe immer nur für etwas Ande­res gelebt. Ich sollte bei Gele­gen­heit mit ihm dar­über spre­chen. Es ist laut. Ich schließe die Augen.

Bücher­städ­ter Lukas
Foto: Geschich­ten­zeich­ne­rin Celina
Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 28.

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