Alexander Pechmann im Interview

von | 19.10.2019 | #Todesstadt, Buchpranger, Im Interview, Specials, Stadtgespräch

„Was ist Phantasie? Phantasie ist ein Menschenrecht.“

Nachdem Alexander Pechmann schon viele Jahre als Übersetzer und Herausgeber im Literaturbetrieb tätig ist, hat er mit „Sieben Lichter“ (2017) und „Die Nebelkrähe“ (2019) inzwischen zwei Schauerromane veröffentlicht. Mit Worteweberin Annika hat er darüber gesprochen, in welche Zeit er gerne zurückreisen würde, welche Klassiker wir unbedingt (wieder)entdecken sollten und ob er an Geister glaubt.

BK: Mögen Sie sich unseren Leserinnen und Lesern kurz vorstellen?

AP: Ich bin ursprünglich aus Wien, habe in Heidelberg Soziologie, Psychologie und Anglistik studiert und arbeite seit meiner Promotion als Übersetzer, Herausgeber und Autor. Derzeit lebe ich mitten im Schwarzwald, in einem langsam verfallenden Haus voller Bücher und Katzen.

BK: Auf der Verlagsseite werden Sie als „Schatzgräber und Goldsucher der Literatur“ beschrieben. Wie darf man sich das denn genau vorstellen?

AP: Viele der Bücher, die ich herausgegeben und übersetzt habe, sind Fundstücke, die bislang nicht in deutschsprachiger Übersetzung vorlagen und auch im englischen Sprachraum kaum bekannt sind – zum Beispiel Mark Twains Liebesbriefe in „Sommerwogen“, Nathaniel Hawthornes Tagebücher in „Das Paradies der kleinen Dinge“ oder Lafcadio Hearns wunderbarer kleiner Roman „Chita“. Ich versuche nun schon seit gut zwanzig Jahren, solche vergessene Perlen aufzustöbern, wieder zugänglich zu machen und ganz allgemein Leser für klassische Literatur zu begeistern.

BK: Sie arbeiten ja auch als Übersetzer und haben mit den Texten von zum Beispiel Herman Melville, Mark Twain, den Fitzgeralds oder Robert Louis Stevenson zu tun. Wirken sich diese fremden Stimmen auf Ihr eigenes Schreiben aus?

AP: Die intensive Arbeit mit klassischen Texten oder auch nur die Lektüre der großen Klassiker führt dazu, dass fremde Stimmen zu sehr vertrauten Stimmen werden, die sicher auch den eigenen Stil beeinflussen. Dies hilft enorm dabei, den richtigen Ton zu finden für Geschichten, die in anderen Epochen angesiedelt sind.

BK: Welche Klassiker können Sie empfehlen, die man unbedingt wiederentdecken sollte?

AP: Vor einiger Zeit habe ich mit großem Vergnügen M. G. Lewis „The Monk“ („Der Mönch“) wiedergelesen. Eine fabelhafte Mischung aus Schauerroman und Abenteuergeschichte, die sich im Original sehr flott liest, während die alten Übersetzungen leider etwas steif und verstaubt wirken. Außerdem lohnt es sich, einen Blick auf das umfangreiche Werk von Jerome K. Jerome zu werfen, von dem nur ein Bruchteil auf Deutsch vorliegt. Auch die Romane und Erzählungen von Algernon Blackwood sind hierzulande viel zu wenig bekannt, und der Elfenbein Verlag beginnt mit einer lobenswerten Neuausgabe der Werke von Arthur Machen. Um noch einen französischen Klassiker zu nennen: Barbey d’Aurevilly – ein Träumer und Exzentriker, der viele wunderbare Novellen und Essays geschrieben hat.

BK: Hätten Sie manchmal gerne zur selben Zeit gelebt wie die Autoren, mit denen Sie sich beschäftigen? Immerhin spielen ja auch Ihre Romane in der Vergangenheit.

AP: Der ideale Ort und die ideale Zeit wären Concord, Massachusetts, Mitte des 19. Jahrhunderts, um Nathaniel und Sophia Hawthorne, H. D. Thoreau, Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller und Herman Melville persönlich kennenzulernen. Dann noch ein kleiner Ausflug nach Amherst, um Emily Dickinson zu umarmen.

BK: Wenn man die Hintergründe in den Nachworten Ihrer eigenen Romane liest, scheint darin sehr viel Recherchearbeit zu stecken! Wie lange haben Sie denn jeweils recherchiert?

AP: Die Recherchen für die beiden Romane nahmen jeweils ungefähr sechs Monate in Anspruch. Allerdings sind während des Schreibens immer zusätzliche Recherchen erforderlich, und es kann vorkommen, dass ich mich sehr intensiv mit einem Thema beschäftige, das im Roman nur für eine kurze Passage von Bedeutung ist – aus persönlichem Interesse und Freude am Lernen.

BK: In Ihren beiden Romanen geht es durchaus schaurig zu – eine Vorliebe?

AP: Ich liebe Schauerromane, phantastische Literatur und phantastisches Kino, Symbolismus und Surrealismus, „wahre“ Gespenstergeschichten, unheimliche Orte, rätselhafte Ereignisse, geheimnisvolle Manuskripte, Vollmondnächte, alte Wälder und schwarze Katzen.

BK: Glauben Sie selbst an Geister oder sind schon einmal mit Séancen und dem Glauben an Übernatürliches konfrontiert worden, oder sind Sie eher der wissenschaftliche Skeptiker?

AP: Mein Großvater, der in Ägypten geboren wurde, erzählte gern von dem Haus seiner Kindheit, in dem Spukphänomene geradezu alltäglich waren. Ich bin also mit dem Glauben aufgewachsen, dass „Geister“ – im Sinne von unerklärlichen Erscheinungen oder Visionen – etwas ganz Natürliches sind, und eigene Erfahrungen haben mich in diesem Glauben bestärkt. Die Frage ist: Was steckt hinter solchen Erfahrungen oder Erscheinungen? Bislang konnte niemand diese Frage schlüssig beantworten, aber es gab und gibt immer wieder interessante Ansätze aus der Wissenschaft und seriöse Wissenschaftler, Psychologen, Mediziner, Kulturhistoriker und Physiker, die sich damit beschäftigen.

BK: Wahrheit und Lüge waren für mich eines der Themen in „Die Nebelkrähe“. Wie halten Sie es denn da, sind Sie eher für die schönen Lügen oder die hässlichen Wahrheiten zu haben?

AP: Ich finde Oscar Wildes Behauptung, Literatur und Kunst hätten weniger mit Phantasie als mit Lüge zu tun, sehr spannend. In „Die Nebelkrähe“ spiele ich bewusst mit der Tatsache, dass ein Erzähler nicht unbedingt die Wahrheit sagen muss und dass der Leser/die Leserin unterschiedlichen „Wahrheiten“ ausgesetzt wird, um dann selbst zu entscheiden, was er/sie für wahr hält. Ich entscheide mich selbst gern für die „schöne Lüge“ der Literatur, um der „hässlichen Wahrheit“ des Alltags zu entfliehen. Damit entkomme ich zwar nicht der Wahrheit, aber dem Hässlichen.

BK: Was sind Ihre nächsten Projekte? Dürfen wir uns bald auf einen neuen Roman freuen?

AP: Ich schreibe gerade an den letzten Kapiteln eines neuen Romans, der vielleicht schon im nächsten Jahr erscheint. Außerdem arbeite ich mit Andreas Fliedner am zweiten Band der großen Lovecraft-Werkausgabe, der für Herbst 2020 eingeplant ist.

BK: Was macht Ihrer Meinung nach ein gutes Buch aus?

AP: Wenn ich ein Buch in die Hand nehme und spüre, dass nicht nur der Autor sein Bestes gegeben hat, sondern auch Verleger, Lektor, Grafiker, Setzer, Drucker, Buchbinder mit Liebe und Leidenschaft ans Werk gegangen sind, ist es „gut“. Inhalte will ich nicht pauschal bewerten, denn ich habe schon oft erlebt, dass ein Buch, mit dem ich zunächst nichts anfangen konnte, mich zu einem späteren Zeitpunkt fasziniert hat. In diesem Sinne hat jedes Buch die Chance, den richtigen Leser zu finden und zu einem guten Buch zu werden.

BK: Was lesen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten? Oder ist alles, was Sie lesen, gleichzeitig auch immer Recherche?

AP: Für mich ist es nicht leicht, Freizeit und Arbeit zu trennen. Manchmal lese ich zum Vergnügen Comics, Phantastisches oder Science-Fiction und finde dabei etwas, das mich inspiriert. Dann wieder lese ich gezielt für irgendein Projekt eine Biographie oder ein Sachbuch, kann nichts oder wenig aus meiner Lektüre verwenden und habe trotzdem Freude daran.

BK: Dann habe ich noch unsere beiden bücherstädtischen Fragen für Sie: Welche Frage haben Sie sich schon immer für ein Interview gewünscht und was antworten Sie darauf?

AP: Was ist Phantasie? Phantasie ist ein Menschenrecht.

BK: Und schließlich: Wenn Sie selbst ein Buch wären, welches wäre das dann?

AP: „Die Bibliothek der verlorenen Bücher“.

BK: Vielen Dank für das Interview!

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #Todesstadt. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
Foto: privat
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