Adventskalender 2018: Türchen 19

von | 19.12.2018 | #litkalender, Kreativlabor

Der Weihnachts-Coup

„Ich sehe vor lauter Weihnachtsbäumen den Wald kaum“, maulte Marcel, der große Schritte machen musste, um in der hohen Schneedecke voranzukommen. Fred, sein Begleiter, sah sich verwirrt im dunklen Wald um: „Das verstehe ich jetzt nicht, ohne Lichterketten sind es keine Weihnachtsbäume, Mann.“
Entnervt kickte Marcel einen Tannenzapfen weg. „Doch, doch, das sind alles kleine Tannen, die werden sicher gefällt und dann auf dem Weihnachtsmarkt verkauft oder so.“
„Nennt man die nicht Fichten?“, warf Fred ein.
„Tannen, Fichten, Fichtentannen, Rottannen, Weißtannen, verfluchte Grüntannen, is‘ eh alles dasselbe Zeug“, wetterte der Angesprochene und zog seine viel zu dünne Jacke enger. „Wo sind jetzt die Rentiere?“
Mit einem nachdenklichen Brummen antwortete Fred: „Ich glaube nicht, dass es Grüntannen gibt. Die roten sind ja auch grün und man nennt sie rot, da wäre es verwirrlich, wenn man andere grüne plötzlich grün nennt, oder?“
„Von was verflucht nochmal laberst du? Linker Politik?“
„Nee, Tannen.“
Kurz herrschte Schweigen, während Marcel zu verstehen versuchte, was sein Begleiter meinte. Schließlich gab er auf und kam auf seine Frage zurück: „Egal, vergiss deine Kommunistentannen. Was hat der Typ jetzt gesagt, wo die Rentiere sind?“
„Na, hinter den Tannen“, entgegnete Fred. „Also diesen hier, durch die wir jetzt gehen.“
Marcel fasste sich an die Stirn. „Na, hoffen wir, wir haben den Wald bald hinter uns, immerhin kann es verdammt schwer werden, Rentiere durchs Unterholz zurückzuführen.“
„Ja, aber was willst du?“, warf Fred ein. „Wir konnten Tante Helgas Pickup ja schlecht in den Tannen parken, oder?“
„Klar, nur wehe, die Rentiere kacken auf den Pickup, da wäre sie echt sauer, wenn wir den so zurückbringen.“
Fred wich einer weiteren Tanne aus und unterdrückte ein Husten. „Eigentlich schon nett, leiht uns deine Tante ihren Pickup für Coups, nicht jede Familie ist so hilfsbereit.“
„Machst du Witze?“, seufzte Marcel. „Ich sage der doch nicht ‚Hey, Tante Helga, wir gehen heute Rentiere klauen, kann ich deinen Pickup haben?‘ Oder seh‘ ich aus, als wäre ich blöd?“
„Keine Ahnung, ob du so aussiehst. Is‘ zu dunkel, als dass ich was sähe.“
„Du mich auch. Also, wo sind die Rentiere?“
Wie aufs Stichwort langte das Duo an einem soliden Zaun an, hinter dem in der Tat mehrere Rentiere auf einer verschneiten Weide standen. „Siehste?“, frohlockte Fred und gestikulierte auf die sie verwirrt musternden Tiere. „Fette Beute heute.“
„Okay, okay“, murrte Marcel und nahm das Seil zur Hand, das er über der Schulter getragen hatte. Ich gehe die Viecher einfangen und du sägst den Zaun durch.“
„Passt“, stimmte der Kumpan zu und musterte die Zaunlatten, über die Fred sich mühselig ins Gehege wuchtete. „Das sollte ich rasch haben.“
„Kooooomm, Rentier, komm her“, versuchte Marcel sein Bestes, die mittlerweile desinteressierten Rentiere anzulocken, blieb aber erfolglos. „Kacke. Na, dann hol ich die halt.“
Derweil hatte Fred aus seiner Sporttasche eine Kettensäge gekramt und zog nun an der Schnur. Mit einem lauten Brummen erwachte sie zum Leben und der Gauner setzte sie am Zaun an.
„Sag mal, bist du wahnsinnig?“, brüllte Marcel im erfolglosen Versuch, den ohrenbetäubenden Lärm zu übertönen. Die Rentiere galoppierten aufgeschreckt ans andere Ende des Geheges und verschwanden hinter mehreren Tannen im Dunkel, während Marcel panisch überlegte, was er nun tun sollte. Schließlich entschied er sich und rannte zu Fred zurück, der just in dem Moment die Kettensäge ausschaltete und zufrieden mit seinem Werk dabei zusah, wie ein Segment des Lattenzaunes zusammenkrachte. „Ha, ich bin ein Profischreiner.“
„Spinnst du eigentlich?“, fuhr ihn Marcel an. „Du hast die Rentiere verscheucht und zudem den halben Wald aufgeweckt, es könnte jederzeit jemand kommen!“
„Mach mal halblang, hier ist weit und breit keiner, und wo wollen die Rentiere schon hin? Sind ja eingezäunt und … Shit!“
Verwirrt wandte Marcel sich um und sah sofort, was dem anderen einen derartigen Schrecken eingejagt hatte: Die ganze Rentierherde kam im Galopp auf sie zu. „Aus dem Weg“, rief Fred, packte ihn am Handgelenk und riss ihn von der Öffnung im Zaun weg. Die Stampede donnerte an den beiden im Schnee liegenden Männern vorbei und einige Sekunden herrschte betroffenes Schweigen, nachdem die Rentiere im Wald verschwunden waren. Marcel kommentierte trocken: „Ich denke, ich muss mir jetzt keine Sorgen mehr machen, ob sie auf Tante Helgas Pickup kacken.“
„Du mich auch.“
„Aber wie genau erklärst du jetzt deinem Auftraggeber, dass wir den Job vergeigt haben?“
„Welcher Auftraggeber?“, wollte Fred wissen, als sie sich aufrappelten und geschlagen auf den Rückweg machten. „Keiner bestellt geklaute Rentiere. Das war meine Geschäftsidee: Ist ja bald Weihnachten, also gibt’s für sowas bestimmt einen Absatzmarkt.“
Entnervt stöhnte Marcel auf. „Und wo hättest du die verkaufen wollen? Craigslist oder was?“
„Zum Beispiel. Oder Weihnachtsmarkt, das passt auch.“
„Weißt du eigentlich, wie hirnverbrannt diese Idee ist?“, maulte ihn Marcel an. „Nächstes Mal, wenn du so einen Plan hast, klau ich dir einfach die Kettensäge und verkaufe die, dann hat sich die Sache wenigstens gelohnt, das wäre …“ er stockte. „Halt mal, hörst du auch einen Autoalarm?“
Skeptisch lauschte Fred. „Ja. Wer weiß, vielleicht haben die Rentiere den Pickup gerammt und …“
„Oh nein, nein, nein“, keuchte Marcel und hastete panisch los. „Tante Helga wird mich umbringen.“
Resigniert trottete Fred hinter seinem besten Freund her und hoffte, sein nächster Plan liefe besser, immerhin würden sie da Nikolauskostüme stehlen.

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Autorin:

Sarah ist Co-Herausgeberin der Literaturplattform Clue Writing sowie des dazugehörigen Kurzgeschichten-Podcasts und Autorin der Science-Fiction-Reihe „Promise“. Zudem ist sie als Sach-/Fachbloggerin im Bereich IT und Technik tätig und produziert als Hobby Let’s-Play-Videos.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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