Adventskalender 2017: Türchen 19

von | 19.12.2017 | #litkalender, Kreativlabor

Die Ankunft – Advento

für Dieter Brassovan

Nina schaute nervös durch das Gitter nach draußen. Von Zeit zu Zeit schrie sie hinaus, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen, doch vergebens.
Im gegenüberliegenden Trakt des Frauengefängnisses schien das Feuer noch nicht restlos gelöscht, zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Rauch, Hektik, Lärm – es war infernalisch, und das am 24. Dezember, Heiligabend. Hier im äußersten Süden Brasiliens war sowieso nicht die weihnachtliche Atmosphäre zu erwarten, die Bewohner kühler Breiten kannten. Auch heute waren es um circa 17 Uhr über 25 Grad. Davon ließ man sich zwar in Lateinamerika gemeinhin nicht irritieren – Weihnachten war hier eben etwas anderes als in Lappland. Aber festliche Stimmung, die auch unter Gefängnisbedingungen durchaus möglich gewesen wäre, war in dieser Ausnahmesituation natürlich nicht im Mindesten gegeben. Weder im von einem Brand betroffenen Trakt A des Gefängnisses noch hier gegenüber, in Zelle 17 von Trakt B.
Zwar konnten sich die vier Insassinnen dieser Zelle normalerweise glücklich schätzen, dass nicht noch ein oder zwei weitere Gefangene die Enge verschärften. Jetzt aber hatten sie ganz andere Probleme.
Nina drehte sich um, wandte sich an die anderen. An Rosa, die mit ihrer Baufirma in einen Betrugsskandal hineingeschlittert war (unsere Wirtschaftskriminelle, pflegten sie in ruhigen Momenten zu witzeln). Und an Martha, die hier inhaftiert war, weil sie ihren Ex, der sie so furchtbar behandelt hatte, aus Verzweiflung ins Jenseits befördert hatte. „Ich glaube nicht, dass wir noch viel Zeit haben.“ Sie blickte zu der Koje, auf deren Rand Martha saß und mit einem feuchten Tuch die Stirn von Tania betupfte, die wegen schweren Raubes hier war. Deren verzerrtes Gesicht zeugte ebenso vom Schmerz der Wehen wie die schon fast unwirklichen Laute, die aus ihrem Mund kamen.
Martha nickte besorgt: „Hast recht, Nina. Die Geburt steht kurz bevor.“ Auch Rosa, die an dem Wasserhahn der „Toilette“ (ein Loch in der Ecke und ein klitzekleines Waschbecken) ein weiteres Textilstück nass machte, stimmte zu, war pessimistisch: „Es bleibt an uns hängen! Diese Wärterinnen sind wegen des Brandes abgelenkt, um uns kümmert sich keine Sau!“
Fatalerweise befand sich die Krankenstation, wohin man die schwangere Tania sonst hätte bringen können, gerade in einem Teil des Traktes, der von dem Brand betroffen war. Martha jedoch hatte noch Hoffnung: „Dr. Barbosa hat doch gesagt, dass sie kommt!“ „Und? Wo ist sie dann?“ Nina schnaubte verächtlich. „Nein, wir sind die Dummen, der gottverlassene Abschaum!“ Wieder schaute sie düsteren Blickes aus dem Gitterfenster, zu dem Rauch, der von dem anderen Gebäude wegwehte, glücklicherweise nicht in ihre Richtung.
Dr. Barbosa war eine Ärztin von außerhalb, die gestern aufgetaucht war, weil Dr. Santana, der Gefängnisarzt, selbst krank war – ein Reitunfall. Die Barbosa hatte einen verlässlichen Eindruck gemacht, aber was konnte man schon wissen. Alles schien sich also an diesem Heiligabend gegen die vier in Zelle 17 verschworen zu haben. Marthas Blick fiel auf das Poster ihrer Namenscousine an der Zellentür, der berühmten Fußballerin. Wenn man doch nur auf schnellen Beinen alle Schwierigkeiten umdribbeln könnte! Aber hier waren vier Mauern, ein Gitter, eine Zellentür – kein grüner Rasen, kein Weihnachten, keine Christmesse, ein weiterer, nein, ein besonders schlimmer Tag in der Hölle!

Währenddessen, ein paar Kilometer entfernt an einer Kreuzung, beugte sich Dr. Barbosa über das Bein eines Verletzten, der aus einem brennenden Auto gezogen worden war. Mit geschickten, raschen Handgriffen, versorgte sie das Unfallopfer, band das Bein ab, um die Blutung zu stillen. Sie hatte sich auf dem Weg zum Gefängnis befunden, als sie an dieser Unfallstelle aufgehalten worden war. Verflixte Situation! Aber sie konnte auch nicht so tun als ginge sie das hier nichts an …

Im Gefängnis beruhigte sich die Lage mittlerweile immer noch nicht. Niemand reagierte auf die Schreie der Insassinnen von Zelle 17 in Block B, denn beim Brand des A-Traktes war wohl einiges passiert. Nicht nur die Feuerwehr war präsent, sondern auch eine ganze Menge bewaffneter Sicherheitskräfte zusätzlich zu den Wärtern! Als hätte man Angst vor Ausbrüchen oder einem Aufstand … So schritt die Zeit voran und die Geburt rückte immer näher. Keine Dr. Barbosa, keine Hebamme, nur drei Gefangene, die Mörderin Martha, die Betrügerin Rosa und Nina, die Anführerin einer Mädchengang. Diese drei waren nun die letzte Hoffnung von Tania und ihrem Nachwuchs. Die Frauen blickten sich an. Immerhin waren Martha und Rosa in den 30ern und selber Mütter. Nina hingegen, die gerade erst 18 geworden war, hatte zumindest ältere Schwestern, bei deren Niederkünften sie zugegen gewesen war – Erfahrung hatten sie also schon … Für Tania mit ihren 19 Jahren war es das „erste Mal“, aber daran konnte man nichts ändern … „Meine Damen“, sagte Rosa, die eine gute Erziehung genossen hatte, was man ihrer Sprache jetzt anmerkte. „Es liegt an uns.“ Martha musste schmunzeln: „Drei Königinnen im Advent …“ Die drei lächelten sich an und Nina zog ihr sonst so sorgsam verstecktes Messer (das sie aus Sicherheitsgründen zu den Hofgängen mitnahm) hervor. „Die Nabelschnur dürfte zumindest kein Problem sein!“

Inzwischen hatte Dr. Barbosa den Ort des Verkehrsunfalls verlassen können und mit heißen Reifen das Gefängnis erreicht. Dort kam sie aber nicht so ohne Weiteres voran.
Schließlich gelang es ihr aber in dem allgemeinen Chaos, eine ältere Wärterin auszumachen, die sie von gestern her kannte. Die war gerade eben erst telefonisch herbeigerufen worden, aber sofort bereit, der Frau Doktor zu helfen, weil ihr die Situation in Zelle 17 bekannt war.

Inzwischen hatte dort das Schicksal seinen Lauf genommen … Schreie, Stöhnen, Schweißbäche auf Tanias Haut! Doch die anderen liefen zur Höchstform auf, ließen sie nicht im Stich. Martha fungierte als eigentliche Hebamme. Aber auch die anderen halfen sowohl durch Handreichungen als auch verbal. „Pressen!“ „Entspann dich“ „Da ist er doch, der Kopf!“ „Gott sei Dank liegt es richtig!“ Schließlich kam ein schwarzhaariges Wesen zum Vorschein. Das junge Leben wurde gehalten von Marthas starkem Arm, dem der Mörderin. Mit der freien Hand des anderen Armes bekreuzigte sie sich, so ergriffen war sie. Nina durchtrennte währenddessen mit Geschick die Nabelschnur – wobei es allen Beteiligten völlig egal war, dass die Koje endgültig wie ein Schlachtfeld aussah. Schließlich ertönte der Schrei einer bislang gänzlich unbekannten Stimme aus Zelle 17, nachdem Martha mit einem Klapps nachgeholfen hatte. Rosa hingegen vermeldete begeistert: „Es ist ein Junge!“ Der Neuankömmling wurde seiner total erschöpften, aber glücklichen Mutter gerade an die Brust gelegt, als sich die Tür öffnete, und Dr. Barbosa nebst der Wärterin die Szenerie betrat. Selbst letztere (stämmig, mit grimmigem, hartem Gesicht) lächelte, als sie den kleinen Neuankömmling bemerkte. Dr. Barbosa war ganz zerknirscht, doch nachdem sie den Grund für ihr Zuspätkommen erläutert hatte, glätteten sich auch Ninas Gesichtszüge. Natürlich hatten Dr. Barbosas kundige Augen bald festgestellt, dass die Nabelschnur mit einem äußerst scharfen Gegenstand durchgeschnitten worden war.
Das Messer hatte Nina aber längst wieder versteckt gehabt … Die Wärterin hingegen bemerkte nichts, verschloss vorschriftsmäßig vorerst wieder die Tür, um trotz des Chaos‘ in Block A für diese Zelle Putz- und Bettzeug aufzutreiben.
Die Ärztin zischte: „Ich will gar nicht wissen, wie Sie die Nabelschnur durchtrennt haben. Geben Sie mir die Tüte da, rein damit, nicht dass die Wärterin doch noch was davon mitkriegt. Ein Schnitt wie mit dem Skalpell!“ Nina lächelte still in sich hinein, das Gesicht wieder zum Fenster gewandt, während Martha der Ärztin die ausdruckslose Miene einer langjährigen Gefangenen zeigte. Die Barbosa nickte kurz und wandte sich Mutter und Kind zu. „Ein hübscher Junge. Das haben Sie alle gut gemacht!“ Sprach’s und holte aus einer Tasche eine Kerze heraus, stellte sie auf die kleine Ablage an der Wand und zündete sie mit einem Feuerzeug an: „Feliz Natal!“[1] Einige Augenblicke lang schwiegen sie, dann sagte Rosa: „Auch zu Weihnachten gilt: Hilf dir selbst, dann hast du Gottes Beistand!“

Jürgen Rösch-Brassovan

Über den Autor:

geb. 1966, verheiratet/ein Sohn, Studium Geschichte/Politik (Magister), Kurzgeschichten/Gedichte seit Langem schreibend, in jüngerer Vergangenheit intensiver; Auszeichnungen, Veröffentlichungen (u.a.): 2014 Gewinn einer Textvertonung für den Literarischen Adventskalender von 1001buch.net, 2015 „Besondere Würdigung“ durch die Jury der „Aktion Deutschland Hilft“ für eine Kurzgeschichte, 2016 erschien eine weitere Kurzgeschichte im Literarischen Adventskalender vom Bücherstadt Kurier.

[1] Frohe Weihnachten

Adventskalender 2016: Türchen 20

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