78,8 % Lebensgeschichte #OwnVoicesBK

Lin Hierse

Foto: Sei­ten­tän­ze­rin Michelle-Denise

Im Rah­men der Dia­spo­ric Echoes Reihe des Inter­na­tio­na­len Som­mer­fes­ti­vals 2022 fand am 11.08.2022 um 18.30 Uhr eine Lesung aus Lin Hierse Debüt­ro­man „Wovon wir träu­men“ auf der Kamp­na­gel Wald­bühne in Ham­burg statt. Sei­ten­tän­ze­rin Michelle-Denise hörte ihren Wor­ten gespannt zu.

Lin Hierse ist seit 2019 Redak­teu­rin der taz am wochen­ende. Alle zwei Wochen erscheint ihre Kolumne „poli­ti­cal cor­rect­ness“ für taz2. „Wovon wir träu­men“ ist ihr ers­ter auto­fik­tio­na­ler Roman und erzählt von einer Mut­ter-Toch­ter-Bezie­hung sowie von Iden­ti­tät, Nähe und Abgren­zung. Ihr Buch befasst sich the­ma­tisch mit einem Bereich der deutsch-chi­ne­si­schen Geschichte, über den bis­her wenig geschrie­ben wurde. Auf ihrer Lesungs­tour machte sie Halt in Hamburg.

Es war ein lauer Som­mer­abend, als ich in der Loca­tion ein­traf. Auf der Open Air-Bühne saßen bereits die Autorin Lin Hierse und Jan Ehlert vom NDK Kul­tur, der als Mode­ra­tor durch die Ver­an­stal­tung führte. Im Gespräch mit Ehlert offen­barte die Autorin direkt zu Beginn, mit einem Augen­zwin­kern, dass exakt 78,8 % ihrer eige­nen Lebens­ge­schichte in „Wovon wir träu­men“ ste­cken würde. Es war für sie ein Kampf das Buch zu schrei­ben, da sie nicht lügen könne. Ihr Buch solle bewusst ein Roman über Frauen in der Fami­lie und keine poli­ti­sche Geschichte sein. Wie viele Kin­der trägt auch sie das Gefühl in sich, für das elter­li­che Glück ver­ant­wort­lich zu sein, die uner­füll­ten Träume ihrer Eltern für sie aus­le­ben zu müs­sen. Doch möchte man das? Ist es nicht meist der Traum eines ande­ren und nicht der eigene? Diese offe­nen Worte haben mich beein­druckt. Sie offen­bar­ten per­sön­li­che Gedan­ken und Gefühle der etwas kühl wir­ken­den Autorin und mach­ten sie dadurch zwi­schen­zeit­lich etwas nah­ba­rer. Menschlicher.

Wäh­rend der zwei Jahre des Schrei­bens an „Wovon wir träu­men“ fand eine Annä­he­rung zwi­schen Hierse und ihrer eige­nen Mut­ter statt. Das Buch wurde zu einer Eman­zi­pa­ti­ons­ent­kopp­lungs­ge­schichte, die sich mit zwei essen­ti­el­len Fra­gen aus Sicht der bei­den Frauen beschäf­tigte: ‚Was für ein Leben hat meine Mut­ter geführt, bevor ich gebo­ren wurde?‘ und ‚Wie lebt mein Kind, wenn es nicht die Rolle der Toch­ter einnimmt?‘.

Exotin ohne Expertenwissen

Als Toch­ter eines Deut­schen und einer Chi­ne­sin war die Autorin in Deutsch­land stets eine Exo­tin. Sie erlebte zwar keine ‚Iden­ti­täts­clas­hes‘, wie sie es selbst bezeich­nete, aber sie fühlte sich als Kind den­noch oft ‚ein­zeln‘. Nicht allein, denn das war sie nicht. Eher wie ein Ein­zel­teil, da es in ihrem Umfeld nie­man­den mit chi­ne­si­scher Mut­ter gab. Zwar sei im Kin­der­gar­ten ein Mäd­chen von den Phil­ip­pi­nen gewe­sen, aber das war ‚the clo­sest thing‘. Bis heute wird sie oft mit der hohen Erwar­tungs­hal­tung ande­rer Men­schen kon­fron­tiert, denn durch ihr äuße­res Erschei­nungs­bild ver­mu­ten viele, dass sie Exper­ten­wis­sen über China habe. Dass Hierse dies schon oft frus­triert hat, war anhand der lei­sen Erzähl­weise spür­bar. Umso schö­ner emp­fand ich ihre Freude dar­über, ver­kün­den zu kön­nen, dass sie mitt­ler­weile zwar immer noch kein Hoch­chi­ne­sisch spre­che, aber die Spra­che im All­tag ver­ste­hen und anwen­den könne. Dadurch habe sich für sie eine neue Welt eröff­net, die es immer noch zu ent­de­cken gibt.

Migration ist kein schönes Wort

Es gibt keine Migra­ti­ons­ge­schichte ohne den Beginn eines neuen Lebens­ab­schnitts oder Umbruchs. „Wovon wir träu­men“ erzählt so eine Geschichte. Dabei emp­fin­det Hierse den Begriff Migra­tion als ein nega­tiv kon­no­tier­tes und unschö­nes Wort. Bis zu die­sem Zeit­punkt hatte ich mir keine Gedan­ken gemacht, wel­che Gefühle der Begriff „Migra­tion“ bei Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund aus­lö­sen könnte. Umso lehr­rei­cher und zugleich inter­es­siert habe ich daher ihre Sicht­weise auf diese The­ma­tik auf­ge­nom­men. Das Buch beinhal­tet eine Viel­zahl von per­sön­li­chen Erfah­run­gen – über schöne bis hin zu schreck­li­chen Din­gen. So spie­len neben Träu­men auch Trau­mata eine Rolle in der Geschichte. Für Hierse ist es eine Art der Befrei­ung, dar­über zu spre­chen und der Roman ist damit die ideale Form, um dies aus­zu­pro­bie­ren, denn die Gren­zen zwi­schen Wirk­lich­keit und Fik­tion sind dehn­bar. Lin Hierse ist es wich­tig, über diese The­men zu schrei­ben, und sie betonte, um über Migra­tion fort­schritt­lich zu schrei­ben, bedürfe es mehr. Mehr Geschichten.

Die Zeit ver­ging wie im Fluge, jedoch habe ich die Autorin bis zuletzt als unnah­bar wahr­ge­nom­men und ledig­lich an ein, zwei Stel­len das Gefühl gehabt, einen kur­zen Ein­blick in ihre Gedan­ken- und Gefühls­welt zu bekom­men, die nicht ein­stu­diert wirk­ten. Viel­leicht war diese Unzu­gäng­lich­keit aber auch dem etwas star­ren Inter­view­kon­strukt zu schul­den. Die Fra­gen von Ehlers waren zwar inter­es­sant und fach­män­nisch, jedoch gab er kaum Spiel­raum für einen locke­ren und ent­spann­ten Wortwechsel.

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