#17. Türchen

by Bücherstadt Kurier

Vater, Mutter, KindVater, Mutter, Kind

Den Bür­ger­meis­ter hatte er schon erspäht. Er saß gemein­sam mit Frau und Kin­dern einige Bänke vor ihm. Er würde ihn spä­ter drau­ßen noch in ein Gespräch ver­wi­ckeln, das würde zumin­dest für ein wenig zusätz­li­che öffent­li­che Auf­merk­sam­keit sor­gen. Ansons­ten war von den Hono­ra­tio­ren kei­ner da. Ärger­lich, aber nicht zu ändern. Spä­ter, in der rich­ti­gen Christ­mette, würde es anders sein, da war er sich sicher.
Er hatte sich für den Besuch der Kin­der­mette am spä­ten Nach­mit­tag ent­schie­den, um wenigs­tens die­sen einen Abend anschlie­ßend in Ruhe und ohne wei­te­ren Ter­min­druck ver­brin­gen zu kön­nen. Aber natür­lich musste er sich an die­sem Tag in der Kir­che sehen las­sen. Das gehörte sich für einen kon­ser­va­ti­ven Poli­ti­ker hier in der Pro­vinz immer noch. Des­halb also die Kin­der­mette. Außer­dem konnte es auch nicht scha­den, sich ein­mal bei einer Ver­an­stal­tung spe­zi­ell für Fami­lien mit klei­nen Kin­dern bli­cken zu las­sen. Die meis­ten wich­ti­gen Leute würde er ohne­hin in ein paar Tagen auf dem Neu­jahrs­emp­fang tref­fen. Und immer­hin war in der Lokal­presse über den Besuch der ört­li­chen Kol­ping­ju­gend bei ihm in Ber­lin recht aus­führ­lich berich­tet wor­den, da war er sehr gut weg­ge­kom­men. Das musste erst ein­mal reichen.

Die letz­ten Wochen waren wie­der ein­mal die Hölle gewe­sen. Nach sei­nem Ein­druck noch schlim­mer als sonst in der Zeit vor Weih­nach­ten. Er war nur noch von Ter­min zu Ter­min gehetzt; neben den obli­ga­to­ri­schen Sit­zun­gen musste er sich in die­ser Zeit noch bei den diver­sen Weih­nachts­fei­ern bli­cken las­sen. Außer­dem galt es gerade jetzt, Unter­stüt­zer in der eige­nen Par­tei zu fin­den, wenn er noch wei­ter vor­an­kom­men wollte.
Es hatte Jahre gedau­ert, sich einen grö­ße­ren Bekannt­heits­grad zu ver­schaf­fen, vom Hin­ter­bänk­ler in ein­fluss­rei­chere Posi­tio­nen auf­zu­stei­gen. Bald würde sich ent­schei­den, ob er auch einen Platz im künf­ti­gen Kabi­nett fin­den würde. Dafür hatte er all die Jahre ver­bis­sen gekämpft und nach den Fei­er­ta­gen würde es wei­ter­ge­hen. Aber heute freute er sich erst ein­mal auf eine gute Fla­sche por­tu­gie­si­schen Rot­wein und Ruhe. Mit nie­man­dem reden müs­sen, ein­fach nur dasitzen.

Das Krip­pen­spiel rauschte an ihm vor­über. Es bedeu­tete ihm nichts, aber der Ritus war ihm von Kin­des­bei­nen an ver­traut. Der Pfar­rer gebrauchte die alt­ver­trau­ten Worte vom Kind in der Krippe, irgend­et­was mit Gebor­gen­heit und Zuver­sicht und Ver­trauen. Er hörte nicht wei­ter hin. Dann war es end­lich vor­über. Jetzt noch ein paar Worte mit dem Bür­ger­meis­ter und sei­ner Frau, ein paar Hände schüt­teln und über Kin­der­köpfe strei­cheln. Mein Gott, sind die die groß gewor­den. Gehst du denn schon in die Schule? Dann würde end­lich die ersehnte Ruhe einkehren.
Anfangs, nach der Schei­dung, hatte er manch­mal noch Angst gehabt, in eine leere Woh­nung heim­zu­keh­ren, allein zu sein, ohne Manuela und Domi­nik. Zu sei­ner eige­nen Ver­wun­de­rung hatte er sich sehr schnell daran gewöhnt. Ja mehr noch, er genoss es, für sich zu sein, ohne wei­tere Ver­pflich­tung. Auch heute umfin­gen ihn die Wärme und die Stille in sei­ner Woh­nung aufs Ange­nehmste. Die Unter­hal­tung mit Fech­ner hatte län­ger gedau­ert als beab­sich­tigt. Des­sen Fami­lie war erkenn­bar unge­dul­dig dane­ben gestan­den, aber Fech­ner, ambi­tio­niert wie er war, ließ sich weder von der Kälte noch von der bevor­ste­hen­den weih­nacht­li­chen Besche­rung von einem län­ge­ren per­sön­li­chen Gespräch mit dem Herrn Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten abbringen.

Der Wein war köst­lich, sam­tig und voll­mun­dig, wie er ihn liebte. Er hatte die rich­tige Wahl getrof­fen. Ent­spannt lehnte er sich zurück und schloss für ein paar Minu­ten die Augen. Er musste wohl ein wenig ein­ge­nickt sein. Plötz­lich stand eine Szene ganz deut­lich vor ihm, etwas ganz Bana­les, nicht wei­ter wich­tig. Er hatte sie wäh­rend sei­nes Gesprächs mit Fech­ner kaum bewusst wahr­ge­nom­men. Nun aber hatte er sie deut­lich, ja über­deut­lich wie­der vor Augen und sie erschien ihm plötz­lich über­aus bedeutend.

Ein klei­ner Junge, er mochte fünf oder auch sie­ben Jahre alt sein – Joa­chim kannte sich da nicht so aus – seine Hand­schuhe bau­mel­ten an einer Kor­del aus den Jacken­är­meln, wäh­rend er seine kleine Hand in die sei­nes Vaters schob. Es war der Blick des Kin­des, der ihn so frap­pierte. Gren­zen­lo­ses Ver­trauen lag darin, Ver­trauen und Zunei­gung. Die bei­den gehör­ten auf so schein­bar selbst­ver­ständ­li­che Weise zusam­men, das konnte Joa­chim in die­sem Moment spü­ren. Ein Vater und sein Sohn.
Hatte er selbst jemals diese Nähe zu sei­nem Sohn gespürt, fragte er sich plötz­lich. Domi­nik. Es war lange her, dass er über­haupt an ihn gedacht hatte. Hatte er ihn jemals ver­misst? Eigent­lich nicht, wenn er ehr­lich war. Im Grunde war ihm sein ein­zi­ger Nach­komme immer fremd geblie­ben, auch wenn er sich das in die­ser Deut­lich­keit noch nie ein­ge­stan­den hatte. Wie alt war Domi­nik jetzt? 29 oder30? Viel­leicht war er sogar sei­ner­seits bereits Vater. Dann wäre er, Joa­chim, Groß­va­ter ohne es zu wis­sen. Seit der Abi­feier damals, seit dem kur­zen, hef­ti­gen Wort­ge­fecht hat­ten sie sich kaum mehr gese­hen. Selbst­ver­ständ­lich war er auch wäh­rend Domi­niks Stu­dium wei­ter­hin sei­nen finan­zi­el­len Ver­pflich­tun­gen nach­ge­kom­men. Da sollte ihm kei­ner etwas nach­sa­gen kön­nen. Mehr aber auch nicht.

Auf ein­mal schien ihm, als gebe es einen Riss in sei­nem Leben. So sorg­fäl­tig er sei­nen beruf­li­chen Wer­de­gang geplant hatte, so zufalls­be­dingt, gera­dezu belie­big, erschien ihm sein Fami­li­en­le­ben. Da hatte sich alles ein­fach so erge­ben, ohne sein Zutun gewis­ser­ma­ßen. Die Ehe mit Manuela, Domi­niks Geburt, spä­ter dann das Aus­ein­an­der­bre­chen der Bezie­hung und die Schei­dung. All das hatte wenig mit ihm zu tun, schien ihm, er fühlte sich kaum davon betroffen.
Ande­res hatte seine ganze Auf­merk­sam­keit gefor­dert: erst seine Kar­riere als Jurist, dann war das poli­ti­sche Enga­ge­ment dazu­ge­kom­men, schließ­lich das Ange­bot für eine Bun­des­tags­kan­di­da­tur. Eine ein­ma­lige Gele­gen­heit. Hätte er dazu nein sagen sol­len? Er hatte keine Sekunde gezö­gert, im Gegen­teil: Joa­chim hatte sein Glück damals kaum fas­sen kön­nen und er begriff nicht, damals nicht und auch heute noch nicht, wes­halb Manuela so anders emp­fand. Er ver­stand ihren Wunsch nach mehr Zeit mit­ein­an­der und mit Domi­nik nicht. Er ver­stand nicht, wie sie so zufrie­den sein konnte mit einem Leben ohne große Her­aus­for­de­run­gen. Er wollte mehr – und er hatte es bekom­men. Manuela hatte ihr Glück schließ­lich in einer zwei­ten Ehe gefun­den. Er war froh dar­über gewe­sen, so brauchte er wenigs­tens kein schlech­tes Gewis­sen zu haben.

Sein Blick schweifte durch das Zim­mer. Er hatte das Gefühl, es zum ers­ten Mal wirk­lich bewusst wahr­zu­neh­men. Dabei wohnte er schon viele Jahre hier. Es erschien ihm unper­sön­lich, sicher geschmack­voll, aber unper­sön­lich. Keine Spur etwa von Advents- oder Weih­nachts­schmuck, schlim­mer noch: Keine Spur sei­nes eige­nen Lebens, das fiel ihm jetzt auf. Gab es das über­haupt, sein Leben jen­seits von Bespre­chun­gen, Ter­mi­nen, Geschäfts­es­sen und Dele­ga­ti­ons­rei­sen? Die kleine Szene fiel ihm wie­der ein. Der Blick des Kin­des, die Ver­traut­heit. Hatte es jemals in sei­nem Leben eine kleine Hand gege­ben, die sich ver­trau­ens­voll in die seine geschmiegt hätte? Joa­chim konnte sich nicht daran erin­nern. Er selbst hatte es wohl nicht zuge­las­sen. Es war ihm nicht wich­tig gewe­sen. Er neigte gewiss nicht zu Sen­ti­men­ta­li­tät, doch nun befie­len ihn Zwei­fel an sei­nem Lebensentwurf.
Ein bit­te­res Gefühl machte sich in ihm breit. Hatte er, der Ziel­stre­bige, nicht in einem wesent­li­chen Punkt ver­sagt? Hatte er über all sei­nen Erfol­gen etwas ungleich Wich­ti­ge­res ver­ges­sen – näm­lich sei­nem klei­nen Sohn die Hand zu rei­chen und ihn auf sei­nen ers­ten, tas­ten­den Schrit­ten ins Leben zu beglei­ten. Hätte sich im Nach­hin­ein betrach­tet nicht so man­cher Ter­min ver­schie­ben oder ganz absa­gen las­sen, hätte er diese Zeit nicht um so viel gewinn­brin­gen­der bes­ser mit Domi­nik verbracht?

Zu spät. Vor­bei. Das Rad ließ sich nicht mehr zurückdrehen.

Der Abend war ihm ver­gällt, sogar der Wein schien sei­nen Geschmack ein­ge­büßt zu haben. Obwohl er müde war, saß Joa­chim bis weit nach Mit­ter­nacht da. Vater, Mut­ter, Kind. Die drei Worte spuk­ten ihm gebets­müh­len­ar­tig im Kopf herum. Vater, Mut­ter, Kind.

Zu spät. Vor­bei. Ver­sagt. Er hatte versagt.

Wie ging es jetzt wei­ter? Es schien ihm unmög­lich, sein Leben ein­fach wie gewohnt fortzusetzen.

Dr. Eli­sa­beth Schinagl

Kurz­vita:

Dr. Eli­sa­beth Schi­nagl, geb. 1961 in Mün­chen, Stu­dium der klas­si­schen Phi­lo­lo­gie und Ger­ma­nis­tik in Eich­stätt und Regens­burg. Ich war wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Lehr­stuhl für mit­tel­la­tei­ni­sche Phi­lo­lo­gie an der Katho­li­schen Uni­ver­si­tät Eich­stätt und danach Gym­na­si­al­leh­re­rin. Seit 2009 bin ich als Refe­ren­tin im Baye­ri­schen Land­tag tätig. Ich publi­ziere seit 2010 und habe inzwi­schen sechs Bücher ver­öf­fent­licht. Wei­tere Infor­ma­tio­nen dazu fin­den Sie auf mei­ner Home­page: www​.eli​sa​beth​schi​nagl​.de.

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Marko Stiebritz 17. Dezember 2015 - 19:16

Nie­mand würde ver­sa­gen, oder, nie­mand würde sein Ver­sa­gen so bemer­ken, wäre da nicht täg­lich die­ser törichte Zwang, alles rich­tig machen zu müs­sen. – Und der Grund für so viele kaputte Fami­lien? Dass man dem Part­ner auch die abso­lute Fehl­bar­keit abverlangt.

Grüße.

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Zwischenzeilenverstecker Marco 18. Dezember 2015 - 11:22

Das Bild des klei­nen Jun­gen, der sei­nen Vater an der Hand hält (oder umge­kehrt) ist ein sehr star­kes und emo­ti­ons­ge­la­de­nes. Ich über­lege gerade, ob die Situa­tion am Ende sehr stark über­zeich­net ist oder ob sie genau so schon vor­ge­kom­men sein kann. Ein Text, der zum Nach­den­ken, aber auch zum Umden­ken anregt.

Danke

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