#15. Türchen

von | 15.12.2015 | #litkalender, Kreativlabor

Und wieder war es Weihnachten

Und wieder war es Weihnachten. Es war immer Weihnachten. Jedes verdammte Mal, wenn er aus dem Schlaf erwachte, war es Weihnachten. Das ermüdete ihn so schrecklich. Schon kam jemand um die Ecke, klatschte geschäftig in die Hände und rief: „Guten Morgen, Chef, ich habe bereits alle Kleider bereitgelegt. Sie müssen nur noch angezogen werden.“
Immer diese Arbeitskleidung, immer dieselbe, abgetragene Uniform. Er war so unendlich müde. Wieso musste er jedes Mal dieses alberne Kostüm tragen? Und dann diese furchtbare Farbe. Die stand ihm überhaupt nicht. Überhaupt würde er viel lieber Grün tragen. Oder Petrol. Diesen Farbton mochte er sehr.
Behäbig stand er vom knarzenden Bett auf und schlurfte zum Badezimmer. Als er die Tür öffnete, stieß ihm eine Dampfwolke entgegen, denn man hatte ordentlich geheizt. Das warme Bad tat ihm gut. Eines der wenigen Dinge, die er nicht oft genug haben konnte.
„Chef! Das Frühstück wird kalt!“
Er verdrehte die Augen. Nicht mal in Ruhe baden konnte man hier. Schwerfällig erhob er sich aus dem Wasser, tropfte beim Heraussteigen die flauschige Fußmatte voll und griff zur Zahnbürste, auf der schon Zahnpasta verteilt war. Mit seiner klobigen Hand wischte er den beschlagenen Spiegel ab und betrachtete die dunkel unterlaufenen Augen, die ihm traurig entgegen blickten.
Wie viele Jahre machte er das jetzt schon? Er konnte sie nicht mehr zählen, aber er wünschte sich, dass die Tage für ihn gezählt wären. Doch da hatte er sich den falschen Beruf ausgesucht. Eigentlich hatte er sich den gar nicht selbst ausgesucht, sondern war hineingeboren worden. So wie Angehörige einer Adelsfamilie. Ein verdammter Mist war das.
„Chef! Die Eier…“
Mehr hörte er nicht, denn er schrubbte nun so laut seine Zähne, dass alle Geräusche um ihn herum verblassten. Bald hatte er nicht nur den Belag runter, sondern gefühlt auch den Zahnschmelz. Es war ohnehin beachtlich, dass er noch seine Originalzähne hatte. Beinahe ein Wunder. So wie er selbst eines war. Ein übles Wunder allerdings.
Mit einem tiefen Seufzer schlüpfte er in seine Arbeitskleidung, trat aus dem Badezimmer und lief dem Duft des Kaffees hinterher ins Esszimmer, setzte sich ans kleine, runde Fenster. Vor ihm war der Tisch reichlich gedeckt. Frisch gebackene Brötchen, gekochte Eier, Honigmelone mit Parma-Schinken, Couscous-Salat, rote, gelbe und grüne Marmelade, Lachs… es ging ewig so weiter. Er hatte jegliche Bewunderung dafür verloren.
Draußen vor dem Fenster tanzten dicke Schneeflocken. Sonst war es stockfinster. Hier war es immer stockfinster. Jedenfalls zu Weihnachten, aber genau dann musste er raus. Oh, wie ermüdend das alles war. Wer hatte eigentlich diesen Standort ausgesucht? Immer dunkel, immer kalt. Diese Person verfluchte er jedes Mal auf‘s Neue. Wenigstens war es im Haus ordentlich warm und ordentlich gemütlich.
„Chef, wie schmeckt das Frühstück?“
Er sah auf den etwas zu kurz geratenen Koch herab und machte eine kreisende Handbewegung durch die Luft, denn er hatte den Mund voll.
„Hm… guter Kaffee“, sagte er schließlich und sah wieder aus dem Fenster.
„Chef, die Inspektion wartet.“
Auch frühstücken konnte man hier nicht in Ruhe. Er trat in die Produktionshalle. Geschäftiges Treiben, lautes Gehämmer, quietschende Förderbänder, wuselnde Mitarbeiter. Stichprobenartig kontrollierte er die Produkte und nickte sie allesamt ab. Noch nie hatte er einen Fehler entdeckt. Eigentlich war sie total überflüssig, aber sie gehörte zum Ritual. Man wollte den Schein wahren. Dass das hier alles total besonders und total wichtig war.

Die Stunden zogen sich dahin. Dauernd Termine, dauernd wollte irgendwer irgendwas und dauernd war das Nächste noch wichtiger als das Vorherige. Schließlich wurde es Abend und man rief ihn in den Stall oder wie er zu sagen pflegte: Die Garage.
Endlich etwas Ruhe und Frieden.
Dort standen sie. Seine Zug- und Lastentiere. Schnaufend, kauend und Futter wieder ausscheidend.
Er seufzte tief, streichelte jedes einzelne von ihnen, kontrollierte die Arbeit der Angestellten und stellte erneut fest, wie sinnfrei das alles war. Was er ebenfalls feststellte: Er war in die Haufen seiner Tiere getreten. Eigentlich wäre er darüber sehr verärgert gewesen, doch es war ein kleiner Ausbruch aus der langweiligen Monotonie. So richtig freuen konnte er sich allerdings nicht, denn sofort war jemand zur Stelle und wechselte ihm die Stiefel.
Er stieg in sein Gefährt.
„Auf ein Neues“, sprach er schwermütig zu sich selbst, nahm die Zügel in die Hand, schmiss sie schnalzend durch die Luft und schon hob der Schlitten ab.
Die Wichtel winkten ihm fröhlich hinterher, er winkte gespielt fröhlich zurück. Immer diese aufgesetzte Heiterkeit. Fast so schlimm wie Fasching.
Ein lautes „HOHOHO“ verließ seinen Mund.
Und wieder war es Weihnachten.

Text: Marco
Bild: Celina

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