1. Türchen

von | 01.12.2014 | #litkalender, Kreativlabor

Überraschung!

Es war einmal ein erfinderischer japanischer Geschäftsmann. Er lebte davon, äußerst ausgefallene Adventskalender zu entwickeln und zu vertreiben. Jedes Jahr ließ er sich eine neue verrückte Idee einfallen und machte damit Menschen mit verschiedensten Interessen glücklich.

Für Reisefreudige hatte er den Kalender „In 24 Tagen um die Welt“ entworfen. Hinter jeder Kalendertür verbarg sich ein anderer Ort. Das konnte ein kleines Nachbardorf sein, eine isländische Insel, eine Wüstenstadt oder eine asiatische Metropole. Sobald der Benutzer ein Türchen öffnete, wurde er in Sekundenschnelle in die abgebildete Umgebung katapultiert und konnte den lieben langen Tag dort verbringen. Zum Glück waren die Kalender so programmiert, dass der eigene Wohnort nicht darin vorkam. Zu groß wäre die Enttäuschung gewesen, den Namen seiner Heimatstadt zu lesen und sich kein bisschen vom Fleck zu rühren. Es war allerdings ratsam, die Gebrauchsanweisung genau zu studieren. So mancher hatte im Eifer des Gefechts versäumt, seine Koffer mit Sommer- und Wintersachen zu packen und für die Reise bereitzustellen. Wer völlig unvorbereitet und verschlafen eine Tür aufklappte, riskierte, sich in seinen Pyjamas am Urlaubsort wiederzufinden.

Jeden Tag einen anderen Ort der Welt zu erkunden ist nicht jedermanns Sache. Es soll sogar Menschen geben, die gar nicht gerne reisen. Aber auch an diejenigen hat der Kalendertüftler gedacht. Die Variante „24 Begegnungen mit der Vergangenheit“ zum Beispiel brachte die Menschen nicht aus ihren Häusern in diverse Städte, sondern diverse Menschen zu ihnen in die Häuser. Dabei handelte es sich keineswegs um irgendwelche fremden Leute, sondern um Bekannte und Verwandte, die man mindestens seit fünf Jahren nicht gesehen hatte. So konnte es zum Beispiel sein, dass man am 1. Dezember auf das Foto seiner Grundschullehrerin blickte , am 2. Dezember von seinem ehemaligen Zahnarzt angelächelt wurde, am 3. Dezember eine Urlaubsbekanntschaft wieder erkannte usw.
Nach wenigen Minuten materialisierte sich die Person im Zimmer, man begrüßte oder umarmte sich herzlich und konnte nach Lust und Laune einen geselligen Tag miteinander verbringen. Besonders bei Senioren stand dieser Adventskalender hoch im Kurs. Sie freuten sich über jede Abwechslung und hatten jede Menge Zeit, um sich mit dem Überraschungsgast zu beschäftigen. Es soll schon vorgekommen sein, dass viele ältere Menschen erst durch den Kalender in den Genuss kamen, ihre Enkelkinder zu sehen und einen ganzen Tag mit ihnen zu verbringen. Und das auch noch vor den Festtagen und ohne der gesamten Sippschaft! Der soziale Mehrwert war dem Hersteller vermutlich gar nicht bewusst gewesen. Sehr wohl bewusst war ihm dagegen, dass er sich vor möglichen Konflikten und Klagen schützen musste. Daher baute er eine Zusatzfunktion ein, für die die Kunden in der Tat sehr dankbar waren: Unliebsame Begegnungen zum Beispiel mit Verflossenen konnten sie verhindern, indem sie die Tür sofort wieder zuklappten. Nicht jedes Antlitz, das zum Vorschein kam, löste schließlich Wiedersehensfreude aus.

Der Adventskalender für 2016 soll bereits in Arbeit sein. Das Thema ist natürlich streng geheim. Es kursieren Gerüchte, dass er diesmal für Büchernarren konzipiert ist. Näheres werden die Leser des Bücherstadt Kuriers sicher als erste erfahren.

Über die Autorin:
Ich heiße Yukiko und lebe in München. Um Schauplätze der Welt geht es auch in meinem Blog www.YukBook.me. Ich lasse mich von Ort zu Ort treiben – durch Reisen, Bücher, Film und Fernsehen – und teile meine Eindrücke mit meinen Lesern.

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

10 Kommentare

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    Hallo Yukiko , ein ganz fazsinierender Adventskalender, In ferner oder etwas näherer Zukunft werden wir uns sicherlich an ferne Wunschziele beamen können. Dann ist es leider mit dem Reisefieber und den Reisevorbereitungen vorbei und jeden von uns kann täglich ein “ Überaschungsgast“ in die Wohnung schneien. Nach meinem Geschmack könnte es erst einmal beim Hl. Nikolaus bleiben, der durch den Kamin in unser Haus blummst, aber bei allen anderen Heimsuchungen hätte ich gerne eine Vorabankündigung.

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      Ja, das Reisefieber würde ich auch vermissen. Da loben wir uns doch eine geruhsamere Adventszeit 🙂

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    Liebe Yukiko.
    Wie immer ist dir auch diese Geschichte sehr gut gelungen. Ich mag deine Kurzgeschichten sehr gerne, weil ich keine Leseratte bin und Bücher immer ein Ewigkeitswerk für mich sind.
    LG Ute

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    Eine köstliche Idee, eine amüsante Geschichte, die man selbst für sich noch weiterspinnen kann.

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    Hallo Yukiko.
    Das ist ja wirklich eine Überraschung, dass Deine Geschichte schon heute erschienen ist, da hast Du bestimmt nicht damit gerechnet.
    Ich gratuliere Dir zu Deinem Erfolg und zu der sehr guten und amüsanten Geschichte.

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    Eine bezaubernde Geschichte, die zum Weiterträumen animiert! Vielen Dank dafür.

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    Oh, mir gefällt der märchenhafte Charakter dieser Geschichte, als auch die feine, sinnbildliche bis – sorry! – garstige Ironie! Sag, liebe Yukiko: Ist das Absicht, oder lese ich das nur subjektiv heraus? 😉 🙂

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      Liebe Molly, das hast Du schon ganz richtig erfasst 😉 Danke für Dein Feedback!

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