Zum Fangen braucht man keine Beine

von | 16.03.2016 | Kreativlabor

nr-20Mit seinen giraffenlangen Beinen steigt er über die Wolke hinweg. So flockenleicht wirkt das auf mich, die ich aus dem Fenster starre, dass ich denke, er ist nicht von dieser Welt. Meine Finger zucken, als meine Hand über mein Knie streicht, aber mein Knie bemerkt es nicht, weder das Zucken noch das Streicheln.
Die Wolke liegt auf unserer Wiese, einen Steinwurf vom Waldrand entfernt. Ungefähr meinen Steinwurf vom Waldrand entfernt, würfe Arno den Stein, flöge er sicherlich noch über den Wald hinweg. Ich bewundere Arno für seine Kraft.
Jetzt dreht er sich um und winkt mir zu.
Bestimmt lächelt er. Arno lächelt fast immer, wenn er mich anschaut.
Ich mag Arnos Lächeln.
Ich winke zurück. Dass ich nicht lächele, kann er auf die Entfernung nicht sehen.
Er legt die Hände an seinen Mund: „Komm her! Ich brauche dich hier!“
Wenn ich noch einen Funken Humor in mir hätte, würde ich jetzt lachen. Als ob Arno mich schon jemals für irgendetwas gebraucht hätte!
Dennoch löse ich die Bremsen des Rollstuhls und komme ihm über die Planken entgegen. Ich bin noch nicht ganz am Schafswollhaufen angekommen, da fliegt mir schon der erste Brocken auf den Schoß.
„Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“, sagt Arno und zeigt dabei vor und hinter sich und nach rechts und links, wo er die alten Kartons bereitgestellt hat, in denen wir unsere begehrte schwarze Wolle in die Nachbarstadt kutschieren. Als er mir erklären will, welche Fuhre für wen in welchen Karton gehört, verknotet er seine Arme und bricht ab.
Jetzt lache ich wirklich. Arno kann nicht mit Lieferanten und Arno kann unsere Kunden nicht auseinanderhalten.
Er hält mir die Schere hin.
Niemand hat so feine Finger wie ich, wenn es darum geht, dünne Hautstellen, Wolllöcher und unentwirrbare Knoten zu erfühlen, daran erinnere ich mich jetzt, als Arno vor mir in die Hocke geht und sein Wollhaufen nur halb so langsam schrumpft wie meiner. Zwischendurch wirft er mir Küsse zu, wenn ich ihm wieder einmal gezeigt habe, wohin er einen Ballen sortieren soll. Zum Fangen braucht man keine Beine.

Maike Frie
Ein Beitrag zum Projekt “100 Bilder – 100 Geschichten” – Bild Nr. 20.

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