Wie kann man Jugendlichen Basiswissen zum Thema „Flucht und Integration“ vermitteln?

von | 29.01.2017 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Kein Tag vergeht ohne Berichterstattung zum Thema Flüchtlinge – und diese wirft viele Fragen auf: Warum verlassen so viele Menschen ihre Heimat? Woher kommen sie? Wie ergeht es ihnen in Deutschland? Was ist Integration? Und was hat das alles mit mir zu tun? Buchschatzmeisterin Rosi versucht anhand des Buches „Nachgefragt: Flucht und Integration“ nicht nur die Fakten zu kennen, sondern auch die Zusammenhänge zu verstehen.

Stell dir vor, in deinem Stadtviertel treibt eine Bande von üblen Schlägern ihr Unwesen. Um zur Schule oder zur Arbeit zu kommen, musst du Umwege in Kauf nehmen, um der brutalen Gang aus dem Weg zu gehen. Irgendwann kannst du aus Angst vor den miesen Kerlen nachts nicht mehr schlafen. Und schließlich ziehst du in eine neue Wohngegend, weg von allem, was dir vertraut ist, weg von deinen Freunden.

Mit einer solchen Beschreibung beginnt Christine Schulz-Reiss ihr Buch „Nachgefragt: Flucht und Integration – Basiswissen zum Mitreden“, erschienen 2016 im Loewe-Verlag. Sie vergleicht die Situation von Flüchtlingen mit dieser Beschreibung. Kinder und Jugendliche wissen vielleicht aus eigener Erfahrung, wie es ist, von ein paar wenigen Schlägern drangsaliert zu werden, große Angst zu haben und schließlich die vertraute Wohngegend und Freunde aufgeben zu müssen, weil die Familie wegzieht, um Ruhe vor der Gang zu finden. Durch die sehr plastische Beschreibung können die jungen Leser die Situation und das Empfinden von Menschen beispielsweise in Syrien deutlich nachempfinden. Untermauert wird deren schreckliche Situation durch Fotos von zerbombten und zerstörten Städten in dem vom Krieg gebeutelten Land.

Klare Sprache, präzise Inhalte

Flucht und Vertreibung gab es schon immer. Darüber wird schon in der Bibel berichtet, als die Israeliten wegen einer großen Dürre in ihrer Heimat nach Ägypten fliehen (damit sind sie die ersten „Wirtschaftsflüchtlinge“) oder wenn Jesus und seine Anhänger verfolgt werden, weil sie die jüdische Bibel anders auslegen als die Gelehrten. Auch heute noch werden Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt.

Ganze Völker flohen beispielsweise vor der Pest oder der Armut. Besonders tragisch ist die Geschichte der Juden, die von ihren Anfängen bis zur Massenvernichtung im Dritten Reich aufgezeigt wird. Es gibt noch weitere Beispiele bis hin zu den Menschen, die die innerdeutsche Mauer und damit das Regime der ehemaligen DDR überwinden wollten. Schulz-Reiss gibt einen sehr schönen und präzisen historischen Abriss zum Thema „Flucht und Vertreibung“.

Besonders gelungen finde ich das zweite Kapitel „Woher und warum?“. Hier beschreibt die Autorin in einer klaren Sprache die wichtigsten Herkunftsländer der Flüchtlinge, wie es dort zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, was die Menschen dort erleiden müssen. So manches Aha-Erlebnis ist dabei: Wer weiß schon, wie es zum Bürgerkrieg in Syrien kam? Ich wusste das vorher nicht. Und wie mir ging es auch einigen Menschen in meinem Umfeld.

Auch die Berichte über einige der gefährlichsten Fluchtrouten der Erde – und damit sind nicht nur die Wege nach Europa gemeint – sind informativ und spannend zu lesen. Schließlich gibt es nicht nur in unserem Teil der Welt große Flüchtlingsströme. Betroffen ist beispielsweise auch der amerikanische Kontinent. Seit Jahren flüchten viele Menschen aus Mittelamerika über sehr gefährliche Routen in die Vereinigten Staaten, in der Hoffnung, dort ein besseres Leben zu finden.

Christine Schulz-Reiss erklärt sehr eindrucksvoll die Ursachen für die Nöte und Konflikte in so vielen Staaten. Oftmals haben diese ihren Ursprung in der Kolonialzeit, von deren Ausbeutung durch die Kolonialmächte sich viele afrikanische Länder bis heute nicht erholt haben. Auch religiös motivierte Auseinandersetzungen, die Gier einiger weniger nach Bodenschätzen und dem Land armer Bauern sowie der Klimawandel lassen viele Menschen auf die Suche nach einer neuen Heimat gehen.

Warum fällt es uns so schwer, Menschen aus anderen Ländern bei uns aufzunehmen?

Die Deutschen haben Probleme damit, Menschen aus anderen Ländern zu integrieren. Das zeigen schon Begriffe wie „Migranten“ oder „Personen mit Migrationshintergrund“, die Behörden, Politiker oder Medien so gerne verwenden.

Ein ganz besonders unrühmliches Kapitel in diesem Sinne sind die „Gastarbeiter“, die deutsche Firmen während der 1950er und 1960er Jahren in Italien, Griechenland, Portugal, Jugoslawien und anderen Ländern anwarben, weil es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nicht genug Arbeiter für die viele Arbeit gab. Mit den Gastarbeitern gingen die Deutschen nicht gut um: Sie mussten in schäbigen Wohnheimen hausen, weil Wohnungseigentümer nicht an sie vermieten wollten; als Nachbarn wollte keiner diese Menschen haben. Mitte der 1970er Jahre wurden die Gastarbeiter dann wieder in ihre Heimat geschickt, weil es in Deutschland auf einmal nicht mehr genug Arbeit gab. Diejenigen, die blieben, holten ihre Familien nach und erledigten die Arbeiten, für die sich keine Deutschen fanden: zum Beispiel bei der Müllabfuhr.

Auch heute gibt es Saison- oder Wanderarbeiter, die nach Deutschland kommen, um dort zu arbeiten, wo kaum ein Deutscher arbeiten will; hier sind vor allem die Landwirtschaft und die Viehschlachterei zu nennen. Für diese Wanderarbeiter ist es die einzige Möglichkeit, genügend Geld für den Unterhalt ihrer Familien zu verdienen. Dafür zahlen sie einen hohen Preis, indem sie für Monate von ihren Familien getrennt sind.

Doch zurück zu den Flüchtlingen. In Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes wird jedem politisch Verfolgten Asyl eingeräumt. Doch wer ist ein politisch Verfolgter und wer nicht? Das Recht auf Asyl wurde in den vergangenen Jahren immer wieder geändert und sogar verschärft. Flüchtlinge aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ haben keinen Anspruch auf Asyl und dürfen abgeschoben werden. Christine Schulz-Reiss macht die Schwammigkeit des Asylrechts deutlich. Zudem erklärt sie einleuchtend den Ablauf des Asylverfahrens.

Schließlich beschreibt das Buch die Entstehung von Vorurteilen und Fremdenhass. Es geht auch auf die Gruppierungen ein, die Fremdenfeindlichkeit gegen Flüchtlinge schüren und propagieren, manchmal sogar ausleben, indem sie beispielsweise Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte ausüben oder Flüchtlingskindern einen Teddy mit durchschnittener Kehle vor die Wohnungstür legen. Immer wieder verbreiten sie auch Unwahrheiten, wie die, dass alle Flüchtlinge kriminell seien. Dabei zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik, dass die Zahl der Straftaten von Flüchtlingen verschwindend gering ist.

Abschließend verdeutlicht das Buch die Bedeutung von Integration und wie wichtig es für uns Deutsche ist, auf Menschen aus anderen Kulturen zuzugehen und diese so wie sie sind bei uns aufzunehmen. Wir können daraus neues Wissen und neue Impulse ziehen, denn ein gutes Miteinander beruht auf gegenseitigem Respekt.

Ein Fazit

Christine Schulz-Reiss‘ Buch „Nachgefragt: Flucht und Integration“ ist für Jugendliche ab 12 Jahren geeignet. Es will ihnen erklären, warum derzeit so viele Menschen auf der Flucht sind und woher sie flüchten. Diese Aufgabe löst Schulz-Reiss in einer für Jugendliche dieser Altersstufe sehr gut geeigneten Art, in einfacher und leicht verständlicher Sprache. Untermalt und bildhaft verdeutlicht wird der Inhalt mit – ebenfalls altersgerechten – Zeichnungen und Fotos. Weiterführende Informationen und Erklärungen finden sich farbig abgesetzt an den Seitenrändern, ebenfalls leicht verständlich dargebracht.
Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Jedes Kapitel beginnt mit einer Frage, die den Inhalt verdeutlicht. Dann folgen ein kleiner Einleitungstext und schließlich der Haupttext. An den Seiten finden sich immer wieder Erläuterungen und Anmerkungen, die das Thema noch verdeutlichen oder schwierige Begriffe erklären. So ist es dem Leser möglich, selektiv zu lesen – also nur das, was ihn auch interessiert.

Hin und wieder kann man nette Anekdoten lesen, beispielsweise dass der Familienname unseres Innenministers Thomas de Maizière von seiner Vorfahrin Marie stammt, die im 17. Jahrhundert als Hugenottin aus Frankreich nach Deutschland floh. Marie kam aus Metz – daher der Name „de Maizière“.
Beruflich bin ich selbst in der Arbeit mit Flüchtlingen tätig. Viele Fragen tauchen auf, viele Vorurteile gegeneinander bestehen. Dies war für mich der Grund, mich mit diesem Buch zu beschäftigen. Durch die Lektüre kann ich bisher unklare Zusammenhänge verstehen, und ich habe auch Neues erfahren.

Alles in allem hat Christine Schulz-Reiss ein sehr lesenswertes Buch verfasst, das den komplizierten und sehr komplexen Sachverhalt der weltweiten Flüchtlingsbewegungen klar strukturiert und sprachlich leicht verständlich erklärt. Damit ist „Nachgefragt: Flucht und Integration“ für Jugendliche ab 12 Jahren geeignet, die einen leicht verständlichen und kurzen Einstieg ins Thema bekommen wollen.

Nachgefragt: Flucht und Integration – Basiswissen zum Mitreden. Christine Schulz-Reiss. Loewe. 2016.

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