Wasser ist Leben – auch Außerirdisches

von | 29.04.2017 | Belletristik, Buchpranger

Wesen aus einer anderen Welt suchen ein neues Zuhause auf der Erde – und wählen dafür Lagos in Nigeria aus. Selten hat ein Science-Fiction-Roman bei Buchstaplerin Maike so viel Eindruck hinterlassen wie Nnedi Okorafors „Lagune“, denn er ist vielschichtiger als gedacht.

Lagos ist die größte Stadt Nigerias und des afrikanischen Kontinents. Genau vor der Küste der Metropole stürzt das Schiff der außerirdischen Besucher ins Meer. Mit sich bringt es nicht nur eine Flutwelle, sondern auch Veränderungen: Zuerst erhalten die Meereslebewesen das, was sie sich wünschen. Dann steigt die Außerirdische Ayodele aus dem Meer. Wo sie hinkommt, weckt die Formwandlerin Neugierde, aber auch Unsicherheit, Gier und Chaos.

Ayodele bringt drei Fremde zusammen, um ihr bei dem Plan zu helfen, eine Botschaft an die Menschheit zu senden. Die Meeresbiologin Adaora, der Rapper Anthony und der Soldat Agu merken bald, dass sie mehr verbindet als der Anfangsbuchstabe ihrer Namen. Als das Misstrauen den Neuankömmlingen gegenüber in den Straßen Lagos‘ gewaltsam eskaliert, müssen sich Adaora und die anderen entscheiden, wem sie beistehen. Klar ist nur: Nichts wird je wieder so sein, wie es einmal war.

„Diese Außerirdischen waren in Frieden gekommen. Waren.“

Ist „Lagune“ Science-Fiction?

Eindeutig, aber nicht nur. Denn zu dem klassischen Motiv des Erstkontakts gesellt sich magischer Realismus und verwebt traditionelle Religionen und Aberglauben mit der Ankunft der Außerirdischen. Die Natur bekommt durch die Augen eines Schwertfisches, einer Spinne oder einer Fledermaus ihre eigene Stimme zu den Geschehnissen. Götter erscheinen, Straßen werden lebendig. Und auch Adaora, Anthony und Agu waren schon vor dem Zusammentreffen mit Ayodele mehr, als man zunächst vermuten könnte.

Die Erzähperspektive wechselt zwischen den drei Hauptfiguren, räumt aber auch vielen Nebenfiguren Platz ein. So werden die Geschehnisse weiträumig beleuchtet und ergeben sich zu einem Gesamtbild, das auch widersprüchliche Beobachtungen zulässt. Die Gestaltwandlerin Ayodele als Botschafterin der namenlosen Außerirdischen wird zum Spiegel der auftretenden Figuren. Sie kann nicht nur den Menschen geben, was sie wollen, sie kann auch die Materie um sich herum beliebig verändern, teilweise mit brutalen Folgen. An Ayodeles fast schon kindlich wirkendes Auftreten wird die Vielschichtigkeit von Menschlichkeit deutlich: Es gibt selbstloses Verhalten, Liebe und Zusammenhalt – aber auch Gier, Korruption und Rücksichtslosigkeit.

Die Außerirdischen stellen nicht nur in den Mittelpunkt, was die Menschheit will – sondern geben auch der Umwelt ungeahnte Möglichkeiten, sich zu wehren. Immer wieder geht es in „Lagune“ um das Meer: Eigentlich sollte klar sein, dass Wasser Leben bedeutet. Doch leiden die Fische als erste darunter, dass die Menschen ihre Gier nach Erdöl nicht zügeln können und deshalb das Meer vergiften. Und auch für einige Menschen in Lagos ist das Meer kein Quell des Lebens. Für Adaoras Ehemann beinhaltet es gefährliche Meerhexen, die die christliche Menschheit verderben wollen. Okorafor verhandelt am Motiv des Wassers somit mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist: „Lagune“ widmet sich dem Problem der Umweltverschmutzung, der Politik, religiösem Fanatismus und Aberglauben.

„Menschen fällt es schwer, sich auf jemanden einzulassen, der ihnen nicht gleicht. Das ist euer größtes Problem.“

Hollywood hat ausgedient

Hollywood vermittelt uns, dass die Aliens den Erstkontakt zu den Menschen natürlich irgendwo in der westlichen Welt suchen. New York, Washington, London – Hauptsache ein Global Player nimmt sich der Außerirdischen an! Aber wird das nicht auf Dauer langweilig und vernachlässigt so viele Kontinente und damit Kulturen? Nnedi Okorafor macht die Heimat ihrer Eltern und ihre kulturellen Wurzeln zum Schauplatz des Gedankenexperiments „Was wäre, wenn die Aliens kämen?“.

Es ist ein erfrischender neuer Blickwinkel, der gleichzeitig einen Kommentar zum westlichen Selbstverständnis darstellt. Und ganz nebenbei erhalten die LeserInnen einen Einblick in das Leben in Nigeria, mit guten wie auch schlechten Seiten. Es kann zunächst überfordernd wirken, den etwaigen Erstkontakt mit Nigeria als literarischem Setting gemeinsam mit dem Erstkontakt der Aliens zu erleben. Doch vieles erschließt sich schnell und der Glossar am Ende des Buches hilft zusätzlich, sich zurechtzufinden.

Ein altes Scifi-Motiv neu erzählt: „Lagune“ ist spannend, aber auch stellenweise sehr brutal. Das Buch vermittelt nicht nur Einblicke in die Metropole Lagos und lenkt weg von Hollywood-Erzählungen. Es verhandelt insgesamt, wie widersprüchlich die Menschheit sein kann und dass für Veränderung manchmal ein Anstoß von außen fehlt.

Lagune. Nnedi Okorafor. Übersetzung: Claudia Kern. Cross Cult. 2016. BK-Altersempfehlung: 16 Jahre.

 

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