Was bedeutet es, irgendwo fremd zu sein?

von | 20.01.2017 | Bilderbücher, Buchpranger

Irena Kobald und Freya Blackwood erschaffen mit „Zuhause kann überall sein“ ein Kinderbuch für Groß und Klein, das nicht nur eine Geschichte vom Fremdsein, sondern auch vom Ankommen erzählt. Wortklauberin Erika liest hinein.

„Meine Tante nannte mich Wildfang“, stellt sich die Ich-Erzählerin vor. „Dann kam der Krieg und meine Tante nannte mich nicht mehr Wildfang.“ (S. 5)

Die Protagonistin, deren Geschichte in der Ausgabe vom Knesebeck Verlag auf Arabisch und Deutsch parallel erzählt wird, flieht mit ihrer Tante in ein Land, in dem sie sich als Fremde zurechtfinden müssen. Alles wirkt dabei anders – die Menschen, die Sprache, sogar der Wind weht anders. Sie und ihre Tante, die auf den Illustrationen in warmen Farbtönen hervorleuchten, finden nur allmählich einen Zugang zu dieser Welt aus kühlen Farben und Menschen, die ungewohnte Laute von sich geben.

Während die eigene Sprache, die eigene Kultur im Hintergrund stehen und zur Zuflucht werden, wie eine alte, vielgeliebte Decke, steht das Neue im Gegensatz dazu. Die Menschen, deren Hautfarbe hell ist, sprechen in anderen Bildern als die Ich-Erzählerin. Zunächst scheint die Situation aussichtslos, doch dem ist nicht so: Ein einheimisches Mädchen macht den Unterschied, indem es sich nicht nur auf unverständliche Wörter verlässt, sondern zur Tat greift. Wenngleich die beiden Mädchen sich zu Anfang nicht in Form von gesprochener Sprache verständigen können, finden sie einen Weg, einander Wörter mit- und beizubringen.

Eine Sprache in Bildern

Freya Blackwood versteht es, Sprache auch ohne Worte in „Zuhause kann überall sein“ mit ihren Illustrationen darzustellen. Die Menschen sprechen in Symbolen, die für die Ich-Erzählerin nicht verständlich sind.

Der Text spricht vom sich-fremd-Fühlen, was durch die Farbwahl in der Gestaltung geäußert wird. Die neue Welt, in welche die Ich-Erzählerin eintritt, erscheint in kalten Farben, während die Herkunftskultur in warme Farben gehüllt ist. Der Kontrast tritt gerade zu Anfang der Erzählung deutlich hervor. Man findet etwa die Ich-Erzählerin, den Wildfang, gemeinsam mit ihrer Tante in einem Zug. Sie leuchten rotorange aus dem in Blau, Grün und Grau gehaltenen Bild hervor.

Mit der zunehmenden Integration der Protagonistin verändern sich nicht die Farben. Die „alte Decke“ der heimischen Kultur bleibt leuchtend rot, während die neue Decke des Ankunftslandes seine kalten, blassen Töne behält. Einzig die Beziehung der Ich-Erzählerin zu dieser anderen Kultur in all ihren Eigenheiten verändert sich, bis sich die verschiedenen Farbtöne im letzten Bild vereinen.

Fremde Zungen

Eine weitere Besonderheit an „Zuhause kann überall sein“ ist neben den liebevollen Illustrationen und der Darstellung des komplexen Themas der Sprache auch die zweisprachige Ausgabe selbst. Die Übersetzungen stammen hierbei von Tatjana Kröll für das Deutsche sowie Mohammed Abu Ramela und Mohammed Abdelhady für das Arabische. Der einzige Wermutstropfen daran bleibt das Fehlen einer Aufnahme, die den arabischen Text für jene zugänglich machen könnte, die der Sprache nicht mächtig sind.

Zugleich macht diese auf den ersten Blick kaum bedeutende Sprachbarriere das Gefühl deutlich, welches die Ich-Erzählerin im Laufe der Geschichte erfährt. Das Fremde und das Vertraute stehen nebeneinander und verbinden sich zu einem neuen Blick auf die Situation von Geflüchteten.

Eine Empfehlung für Groß und Klein

Bemerkenswert ist dabei auch, dass weder Herkunfts- noch Ankunftsland benannt werden: Man muss sich auf Vermutungen verlassen, was das Buch einem breiten Publikum zugänglich macht – sowohl in Australien, wo das Kinderbuch 2014 erstmals erschien, als auch in Europa oder den USA. Das zeigt: Dieselbe Geschichte kann sich überall, in sämtlichen kulturellen Kontexten abspielen.

„Zuhause kann überall sein“, das im deutschen Raum in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung erschien, ist eine Empfehlung für Groß und Klein. Es bietet eine Bühne für das Ansprechen der großen Bandbreite an Themen, die mit dem sich-fremd-Fühlen verbunden sind. Da es sich dabei allerdings doch um eine relativ komplexe Thematik handelt, ist „Zuhause kann überall sein“ eher für größere Kinder ab etwa sieben Jahren geeignet.

Zuhause kann überall sein. Irena Kobald. Illustrationen: Freya Blackwood. Übersetzung ins Deutsche: Tatjana Kröll. Übersetzung ins Arabische: Mohammed Abu Ramela, Mohammed Abdelhady. Knesebeck. 2016. Illustration (oben): www.knesebeck-verlag.de 

 

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