Von Göttern, Münzen und gesprengten Schubladen

von | 14.06.2015 | Belletristik, Buchpranger

An Neil Gaimans Büchern scheinen sich die Geister zu scheiden – entweder man liebt sie oder man hasst sie. Aber eines ist klar: sie sind ungewöhnlich und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Ein Paradebeispiel dafür ist „American Gods“. Bei Eichborn ist nun, 15 Jahre nach den ersten Erfolgen des Romans, die Lieblingsfassung des Autors auf Deutsch erschienen. – Von Buchstaplerin Maike

Als Shadow aus dem Gefängnis entlassen wird, glaubt er, sein Leben neu beginnen zu können. Doch seine zweite Chance kommt anders als gedacht. Seine Frau ist verunglückt und in seiner Heimat wartet kein Job auf ihn. Da bietet ein seltsamer alter Trickbetrüger, der sich Mr. Wednesday nennt, Shadow einen Deal an, der sein Leben verändern soll. Zögerlich willigt er ein, denn was hat er jetzt noch zu verlieren? Ein Roadtrip durch Amerika beginnt, bei dem Wednesday und Shadow geheimnisvolle Orte aufsuchen und unmöglichen Personen begegnen. Bald stellt sich heraus, dass die Dinge mehr sind, als sie scheinen. Ein Krieg steht bevor, und kein gewöhnlicher Krieg: Die Götter der alten Mythologien, die fast in Vergessenheit geraten sind, beziehen Aufstellung gegen die neuen Götter der Medien. Und Shadow ist mittendrin…

„Wir kämpfen ums Überleben, am Rand der Dinge, wo niemand uns allzu genau beobachtet. […] Alte Götter, hier in diesem neuen, götterlosen Land.“ (Wednesday, S. 166)

American Gods ist ein Roman, der sich in kein Genre einordnen lässt. Die Geschichte um Shadow und Wednesday ist vielschichtig und bunt: Elemente von Roadtrip, Thriller, Abenteuer, Horror, Fantasy und sogar Liebesgeschichte verflechten sich zu einem Epos. Dabei kommt es zu einem Rundumschlag durch die alten Mythologien, etwa den nordischen, den ägyptischen oder den indischen Sagen, der durchaus verwirren kann.
Auch wenn der Schwerpunkt auf Shadows Geschichte liegt, gibt es lose Zwischenspiele, die illustrieren, wie Götter und Wesen der Alten Welt nach Amerika gekommen sind und wie es ihnen dort ergeht. Diese Kapitel können durchaus für sich allein stehen und lockern das Buch auf.
Besonders interessant ist Shadow als Protagonist gestaltet: Er bleibt zunächst farblos, denn es gibt nach dem Tod seiner Frau kein großes Ziel mehr in seinem Leben. So schlittert er in die Geschichte hinein, reagiert mal naiv, mal intelligent auf die Ereignisse und kommt den Schatten seiner eigenen Vergangenheit immer näher.

Motive und Sprache: Die zwei Seiten einer Münze

Schnell wird das Leitmotiv des Buches herausgearbeitet. Erscheinen die Münztricks, die Shadow aus Langeweile übt, zunächst als nichtige Details, wird bald das Ausmaß des Bildes klar: Der Roman spielt mit der Wahrnehmung und führt den Lesenden immer wieder vor Augen, dass die zwei Seiten einer Münze, so unterschiedlich und widersprüchlich sie sein mögen, immer noch zu ein- und demselben Gegenstand gehören. Auch die Sprache des Buches gleicht einem Münztrick: Derb, respektlos und direkt, gleichzeitig poetisch, nachdenklich und mit unnachahmlicher Beobachtungsgabe.

Der „Director’s Cut“ von American Gods ist gut zwöftausend Wörter länger als die preisgekrönte Originalausgabe von 2001 und ist damit die Fassung, auf die Gaiman am meisten stolz ist. Ein Blick in den Roman lohnt sich auch für Menschen, die mit Fantasy weniger anzufangen wissen. Denn es geht um nichts anderes als um die Seele Amerikas, die gleichzeitig alt und jung, beständig und wandelbar ist – und vor allem: mehr als man sieht.

American Gods (Director’s Cut). Neil Gaiman. Übersetzung: Hannes Riffel. Eichborn. 2015. Ab 16.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

2 Kommentare

  1. Avatar

    Schöne Rezension, hätte Lust, das Buch im neuen „Director’s Cut“ erneut zu lesen. Meine eigene Lektüre der Version aus dem Heyne-Verlag fiel etwas weniger positiv aus (http://wp.me/p1Vmd7-114), obwohl ich viele seiner Romane, Kurzgeschichten und vor allem die Sandman-Reihe brillant finde.

    Antworten
    • Bücherstadt Kurier

      Hallo belmonte,
      das freut mich. Vielleicht entdeckst du an dem Buch neue Seiten – auch wenn sich im Director’s Cut nicht wirklich etwas an der Episodenhaftigkeit verändert hat. Es ist wohl auch der persönliche Geschmack, wie American Gods ankommt. Mir persönlich gefällt der Genremix, während Sandman mich nicht hat begeistern können. Ich bin gespannt, was er noch aus dem Ärmel schüttelt.
      Maike

      Antworten

Trackbacks/Pingbacks

  1. Vom Anfang der Welt bis zu den Ragnarök – Bücherstadt Kurier - […] wit­zig, zeit­los: Neil Gai­man, der sei­ne Er­zähl­kunst un­ter an­de­rem schon in „Ame­ri­can Gods“ un­ter Be­weis ge­stellt hat, wid­met sich…

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