Traumtagebuch oder Roman übers Erwachsenwerden?

von | 21.09.2016 | Belletristik, Buchpranger

Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht in diesem Jahr das Debüt der jungen Schweizerin Michelle Steinbeck. Allein der Titel „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ weckt so allerhand Erwartungen. Ob es sich lohnt, der Protagonistin Loribeth auf ihrer surrealen Reise zu folgen, klärt Buchstaplerin Maike.

Zuerst sind da Loribeth und der Koffer ihres Vaters, der sich irgendwann aus dem Staub gemacht hat. Und dann ist da die Kinderleiche, die sie ihm mit dem Koffer vorbeibringen muss. Was klingt, wie eine ernste makabre Erzählung, ist in Wahrheit eine höchst surreale Reise. Loribeth, nicht mehr Kind, aber noch nicht richtig erwachsen, sucht ihren Vater an allen möglichen seltsamen Orten und macht Bekanntschaft mit grotesken Figuren. Und auch ihr „Gepäck“ führt nach wie vor ein Eigenleben …

Ist das ein Roman?

Der Untertitel verrät es: „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ ist ein Roman. Und wir alle wissen instinktiv, wie ein Roman funktioniert, oder? Doch dieses Buch stellt auf den Kopf, was wir zu wissen glauben. Traumgleiche Szenen folgen aufeinander und nicht immer ist klar, was Loribeth wirklich erlebt, und was sie träumt oder in der Erzählung grotesk überformt. Oft wirkt es, als ob sie von einem (Alb-)Traum in den nächsten wandert. Ganz so, wie es beim Träumen ist, müssen selbst die surrealsten Erscheinungen oder Handlungsabfolgen nicht logisch erklärt werden. Eine Gruppe sprechender Hunde tritt auf? Loribeth steigt einfach in ein Flugzeug und fliegt los, und vom Flugzeug geht es direkt in ein Schiff, das aus Konservendosen besteht? Eine Künstlergruppe inmitten eines verfallenen Hauses im Meer gewährt ihr Unterschlupf? Nichts muss hinterfragt werden. Auf diese Erzählweise muss man sich erst einmal einlassen.

„Du bist noch sehr Kind in dir drin“

Loribeths Erzählung, halb innerer Monolog voll von zynischen Beobachtungen, lebt von der Beschreibung ihrer Umgebung. Und schön ist das, was sie sieht, nun wirklich nicht: „Das Kind glupscht zur Decke hoch, im aufgerissenen Mäulchen glitzern die Milchzähne.“ Oder: „Es riecht nach Kohlerauch und verwesendem Fleisch. Über den Hauseingängen hängen gehäutete Schafsköpfe.“

Es ist eine bizarre Faszination auf die ekligen Details und den Zerfall, die sich durch den Roman zieht. Doch in all den Traumsequenzen bleibt die Protagonistin unnahbar und unbehaglich unvorhersehbar. Etwa ihre Reaktion auf den Tod des Kindes ist anders, als man erwarten würde, und auch sonst fügt sie sich den Ereignissen. Immerhin hat es eine alte Wahrsagerin so vorhergesagt: „Deine Ängste und Zögerlichkeiten, es sind nicht deine … es sind die deines Vaters – steck sie in den Koffer und gib sie ihm zurück!“

Wenn Loribeths Reise für das Erwachsenwerden steht, dann erklärt sich so, warum all ihre Stationen und Konflikte nahtlos und banal ineinander übergehen: Weil sie es müssen. Weil ihr Erwachsenwerden nicht aufgehalten werden kann, muss es einfach immer weitergehen. Und vielleicht sind die märchenhaften und mythischen Begegnungen nur ein albtraumhafter Überzug für ganz reale Ängste.

Schon wieder Coming of Age?

Ob „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ eine Allegorie auf das Erwachsenwerden ist? Das kann vermutet werden. Klar ist: So einen Roman habe ich noch nie gelesen. Die Erzählweise und die phantastischen, jedoch verstörenden Episoden, stechen aus den „typischen“ Romanen heraus, auch wenn sie sicher nicht jeder Person zusagen.

Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch. Michelle Steinbeck. Lenos Verlag. 2016.

 

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