Rätselhafte Liebe und das Nachtleben von Paris

von | 06.11.2016 | Belletristik, Buchpranger

Buchstaplerin Maike hat sich ein sprachliches Experiment vorgeknöpft: Nach 30 Jahren ist zum ersten Mal Anne Garrétas Roman „Sphinx“ auf Deutsch erschienen. Warum das so lange gedauert hat? Weil die Liebesgeschichte der beiden Hauptfiguren ganz ohne Nennung von Geschlecht auskommt.

sphinx„Ich“ liebt „A***“ – eine Romanze, die sich über alle Grenzen hinwegsetzt. Denn Ich ist jung und weiß, studiert Theologie und arbeitet nachts als DJ im angesagtesten Club von Paris – A*** hingegen kommt aus New York, ist schwarz und schillernder Star einer Tanzshow. Ihre Umwelt glaubt nicht, dass die beiden zusammenpassen. Doch sie verbindet ungezwungene Freundschaft und später Leidenschaft. Immer sind sie im Nachtleben verwurzelt, der schönen Show genauso wie den finsteren Abgründen.

Geschlecht und Sprache

Funktioniert ein Liebesroman, bei dem das Geschlecht der Hauptfiguren nie genannt wird? Aus sprachlicher Sicht ein forderndes Experiment, gerade im Französischen oder Deutschen, die strikt gendern. Dem Buch gelingt hervorragend, uns im Dunkeln zu lassen, indem die erzählende Figur nur als „Ich“ in Erscheinung tritt und der Name der geliebten Person bis auf den Anfangsbuchstaben zensiert wird. Beschreibungen von Körpern bleiben daher begrenzt, ohne an sprachlicher Schönheit zu verlieren, und umso mehr kommt in Ichs Erzählung die Konzentration auf den Verstand zur Geltung. Auch ohne Geschlecht erfährt man genug über die Figuren, um sich ein eigenes Bild über die Charaktere zu machen. Einerseits kreiert das eine Projektionsfläche für alle Geschlechtkonstellationen, die man dem ungleichen Paar zuweisen möchte. Und andererseits entlarvt die Leerstelle, wie schnell wir versuchen, Personen ein Geschlecht zuzuweisen. Funktioniert die Leerstelle auch aus inhaltlicher Sicht? Klare Antwort: Ja. Das Fehlen von Geschlecht stört nach kürzester Zeit nicht mehr und wirft die Frage auf, ob es für Geschichten überhaupt wichtig ist.

Inhaltliche Schwächen

Ich-Erzähler sind Geschmackssache, und wenn sie viel über sich und wenig über andere preisgeben, kann man das mögen, oder auch nicht. In „Sphinx“ präsentiert sich Ich als leidende, intellektuelle Person, die stets die Rätsel der Welt zu ergründen versucht, ohne sich wirklich an etwas zu erfreuen. In Ichs Gedankenwelt ist trotz der offenkundigen Leidenschaft für A*** kaum Platz für die geliebte Person. Sie wird weder greifbar noch lebendig. Statt Dialogen setzt Ich alle Interaktionen in bis ins kleinste Detail zergrübelte feingeschliffene Sätze um. A***, obwohl als schillernd und lebensfroh beschrieben, kommt fast nicht vor und erscheint manchmal selbst nur wie eine Projektionsfläche für Ichs Analysen. Das kann beim Lesen ermüdend wirken.

Mythologie und Nacht

Dominant ist vor allem Ichs ständiger Flirt mit dem Dunklen, die Faszination von Schein und Sein, und das Zelebrieren von Schmerz. In dieses nächtliche Setting passt die Ansammlung mythologischer Anspielungen und Hinweise, die den Roman durchzieht und zum Weiterdenken anregt. So studiert Ich zum Beispiel Theologie, ist aber dem Weltlichen so erlegen, dass nächtliche Streifzüge durch das Pariser Nachtleben mit einem DJ-Job im Club „Apocryphe“ gekrönt werden. Und gelten nicht die Apokryphen der Bibel als außerkanonische Geheim-, oder sogar Irrlehren? Im Gegensatz dazu ist A*** im Club „Eden“ verortet, dem Paradies, aus dem das allererste Menschenpaar vertrieben wurde. A*** selbst scheint die Rolle des Fabelwesens Sphinx einzunehmen, die immer in Rätseln spricht und ihr Gegenüber, gelangt es zu keiner Lösung, verschlingt.

Vielleicht soll der Titel des Romans uns anspornen, seinen Inhalt zu dekodieren und Lösungen und Interpretationen zu finden, die beim einmaligen Lesen verborgen bleiben? „Sphinx“ ist auf jeden Fall sprachlich und inhaltlich ambitioniert, doch der Roman wird nicht jedem gefallen. Wer anspruchsvolle und melancholisch-düstere Winterlektüre sucht, sollte sich jedoch an diesem literarischen Kunstwerk versuchen.

Sphinx. Anne Garréta. Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Edition Fünf. 2016.

 

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