Künstliche Intelligenz und die großen Fragen des Lebens

von | 05.07.2016 | Auditorium, Hörbücher

Am 08. Juni 1954 wird der Mathematiker Alan Turing tot in seinem Bett gefunden. Alle Zeichen deuten auf Selbstmord hin. Der ermittelnde Inspector Leonard Corell ist zunächst nur mäßig interessiert. Doch dann beginnt er in Turings Vergangenheit einzutauchen. Die sich entfaltende Lebensgeschichte fesselt vom ersten bis zum letzten Wort. Auch Erzähldetektivin Annette ließ sich vom Hörbuch mitreißen.

Bis vor wenigen Jahren hat sich die Populärkultur kaum mit Alan Turing befasst. Dabei hat der Mathematiker bedeutende Leistungen vollbracht. Mit seinem Einsatz während des Zweiten Weltkriegs und der von ihm entwickelten Enigma-Maschine beschäftigt sich beispielsweise das Oscar prämierte Drama „The Imitation Game“ mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle. Doch die Figur des Alan Turing hat noch mehr zu bieten, wie der schwedische Autor David Lagercrantz in seinem Romandebüt „Der Sündenfall von Wilmslow“ zeigt. Ausgehend vom Tod des Mathematikers, bringen die Ermittlungen den Protagonisten des Romans, Leonard Corell, immer weiter auf die Spur eines genialen Denkers, der seiner Zeit stets voraus gewesen ist.

Das Lügen-Paradoxon

Am Anfang steht dabei ein simpler Satz: „Ich lüge.“ Ist der Satz wahr, dann muss er falsch sein – ist der Satz jedoch falsch, dann muss er wahr sein. Dieses Lügen-Paradoxon lässt Turing zeitlebens nicht mehr los und auch Corell zieht es immer weiter in seinen Bann. Das Paradoxon geht bis auf den kretischen Philosophen Epimenides zurück. In einfacher Form kann das Lügen-Paradoxon an folgendem Beispiel erklärt werden:

„Dieser Satz ist falsch.“

Diese Aussage ist weder eindeutig wahr, noch falsch. Wäre sie falsch, dann würde zutreffen, was der Satz behauptet und damit wäre er wahr. Wäre der Satz jedoch wahr und es trifft zu, was der Satz behauptet, dann ist er – nach eigener Aussage – falsch.
Turing kommt in einem Seminar von Ludwig Wittgenstein erstmals mit dieser Paradoxie in Kontakt. Doch anders als für den großen Philosophen, ist das Lügen-Paradoxon aus Turings Sicht keine bloße Wortspielerei. Es stelle nicht weniger als unseren grundlegenden Wahrheits- und Wissensbegriff in Frage.

Bröckelnde Mathematik und denkende Maschinen

David Lagercrantz gelingt es auf eindrucksvolle Weise, Erklärungen dieser Art detailliert genug auszuführen, sodass auch Laien ihnen folgen können. Die Erläuterungen sind dabei stimmig und ganz natürlich in die Romanhandlung integriert. Seine Ausführungen reißen die Leser aus ihrem Verständnis der Welt und befördern sie mitten hinein in philosophische Grundsatzdebatten.

So wird für Turing – einem Mann, der selbst voller Widersprüche steckt – die Mathematik erst richtig interessant, als ihr scheinbar der logische Boden entzogen wird. Der Mathematiker David Hilbert möchte den Glauben an die Mathematik als zuverlässige Wissenschat nicht aufgeben und sucht nach einer Methode, über die Entscheidbarkeit mathematischer Sätze zu urteilen. Sein Kollege Max Newman überlegt, hierfür eine mechanische Methode heranzuziehen. Alan Turing greift diese Idee auf und entwickelt sie weiter. Die Idee einer logisch denkenden Maschine wird für ihn zum alles bestimmenden Grundsatz.

Für uns, die wir im Zeitalter von Laptops, Smartphones und Tablets leben, ist dieser Gedanke eine Selbstverständlichkeit geworden. Doch Turing ist ein Pionier der Informations- und Computertechnologie. Sein 1936 entwickeltes Modell der Turingmaschine ist wichtiger Vorläufer unserer heutigen Computertechnik.

Und Turings Überlegungen gehen weiter. In Verbindung mit seinem Interesse an Atomtheorie und Biologie entwickelt er Vorstellungen einer künstlichen Intelligenz, sogar fühlende Maschinen schließt er nicht aus. Sein Traum ist es, den freien Willen mechanisch nachzuahmen und Maschinen so mit der Fähigkeit zu Irrationalität auszustatten. Ideen, die heute eher in dystopischen Film- und Romanfantasien ausgeschmückt werden, sind für Turing wissenschaftliche Grundüberlegungen. Mit dem menschlichen Hoheitsanspruch auf Intelligenz geht er nicht konform und weigert sich, den Menschen als Richtschnur – auch, oder erst recht nicht, im moralischen Sinne – anzuerkennen.

„Weil wir alle komplizierte Vögel sind.“

Das letzte Drittel des Buches wendet sich näher der Person Alan Turing zu. Kindheit und Jugend werden ebenso beleuchtet wie seine Jahre in Bletchley Park. Dort war Turing mit seinen Ideen maßgeblich daran beteiligt, den Code der Deutschen Wehrmacht zu knacken. Der Historiker Sir Harry Hinsley geht davon aus, dass der Zweite Weltkrieg auf diese Weise um zwei bis vier Jahre verkürzt worden ist. [1]

Sein Tod wird schließlich als Suizid zu den Akten gelegt. Turings Leidensgeschichte als verurteilter Homosexueller, die Diskriminierung durch Staat und Gesellschaft und schlussendlich die chemische Zwangskastration als Alternative zu einem Gefängnisaufenthalt, ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Romanhandlung. Am Ende kann Alan Turing zwar nicht wieder zum Leben erweckt werden, doch Corells Befreiungsschlag aus seinem tristen Leben als Polizist in einer von Vorurteilen und Ressentiments geprägten, kleinkarierten Gesellschaft zeigt, wie wirkungsstark Ideen sein können.

Portrait eines genialen Außenseiters

David Lagercrantz gelingt in „Der Sündenfall von Wilmslow“ die Vermischung eines aufregenden Kriminalfalls mit dem feinfühligen Portrait einer hochsensiblen Person, die bisher viel zu wenig Beachtung fand. Dabei werden elementare mathematische und philosophische Überlegungen so spannend wiedergegeben, dass Philosophen, Logiker, Mathematiker und Laien gleichermaßen ihre Freude haben werden.

Der deutsche Schauspieler Devid Striesow gibt die emotionale Tiefe des Romans wunderbar wieder und liest mit einer Innbrunst, die auch das Hörbuch von Random House zu einem ganz besonderen Vergnügen macht. Die philosophischen Zusammenhänge werden derart spannend wiedergegeben, dass die eigentliche Rahmenhandlung beinahe zur Nebensache wird – jedoch einer ausgesprochen interessanten Nebensache, denn immerhin werden ganz nebenbei auch Themen wie Homophobie, gesellschaftliche Ausgrenzung, aber auch Toleranz verhandelt. Die Philosophin in mir wurde von Turings genialen Gedanken begeistert, die zu eigenem Nachdenken anregen. Mir hallen Turings Ideen noch lange nach.

[1] www.theguardian.com/theguardian/1999/jan/18/features11.g2 (letzter Aufruf: 05.07.16)

Der Sündenfall von Wilmslow. Gekürzte Lesung nach dem gleichnamigen Roman von David Lagercrantz (2009). Random House Audio, 2016. Gelesen von Devid Striesow.

 

Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner