Jörg Armbruster über deutschstämmige Juden in Israel

von | 20.11.2016 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Auschwitz ist nicht nur Teil der Vergangenheit, sondern alltägliche Gegenwart im jüdischen Staat, der geprägt ist durch seine geopolitische Lage ebenso wie durch die Geschichte als Einwanderungsland. Ausgehend von den Erinnerungen eingewanderter KZ-Überlebender beschreibt Jörg Armbruster einen Leidensweg, der nicht mit dem Überleben endet, aber Anstoß für eine neue Geschichte gibt. Am 11. Oktober 2016 war Armbruster in der Buchhandlung Decius in Hannover zu Gast und der Bücherstadt Kurier durfte dabei sein. – Von Erzähldetektivin Annette

Als Anfang der 1990er Jahre das Gerücht aufkommt, die Konzentrationslager hätte es nie gegeben, bricht Judith Rosenzweig ihr jahrzehntelanges Schweigen. Als Jugendliche hatte sie Theresienstadt, Auschwitz, Bergen-Belsen und schließlich einen Todesmarsch überlebt, doch niemals über ihre traumatischen Erfahrungen gesprochen. Ihre Erinnerungen teilt sie schließlich aus einem simplen Grund: Die Bilder, die sie ihr gesamtes Leben lang begleitet haben, drohen im internationalen Kollektivgedächtnis zu verblassen und dies gilt es zu verhindern.

Judith Rosenzweig gehört zu den hunderttausenden europäischen Einwanderern, die in ihren Herkunftsländern verfolgt wurden und im „gelobten Land Israel“ eine neue Heimat suchten. Nicht alle haben diese auch gefunden oder jedenfalls nicht sofort. Heute leben noch etwa hundertneuzigtausend Opfer der Naziverbrechen in Israel, jeder vierte von ihnen am Existenzminimum. Vom israelischen Staat bekommen sie kaum Unterstützung, die Hilfe stammt in aller Regel von internationalen Organisationen.
So unterhält die „International Christian Embassy Jerusalem“ in Haifa das „Warm Home for Holocaust Survivors“, eine Wohnstätte für Holocaust-Überlebende, die sich eine Unterbringung in einem teuren staatlichen Heim nicht leisten können. Hier startet auch Jörg Armbruster seine umfassende Recherche. Und obwohl seine Suche in der Vergangenheit beginnt, schlägt er in seinem Werk „Willkommen im gelobten Land? Deutschstämmige Juden in Israel“ gekonnt einen Bogen bis in die weltpolitische Gegenwart.

Viel Hintergrundwissen

Geografisch ist Israel für Armbruster kein unbekanntes Terrain. Über viele Jahre war er Auslandskorrespondent der ARD für den Nahen und Mittleren Osten und Moderator des ARD-Weltspiegels. 2011 veröffentlichte er ein Werk über den Beginn des arabischen Frühlings, 2013 führte er der westlichen Welt ihre politische Verantwortung vor Augen. In seinem neuesten Buch begibt er sich zunächst weit in die Vergangenheit und beleuchtet ein Kapitel der Geschichte, dem bisher nur wenig Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Die ursprünglich geplante Reportage über das Heim in Haifa weitete sich zu einem umfassenden Recherche-Werk aus. Denn schnell wird klar: Das Leid der Holocaust-Überlebenden endete nicht mit der Einwanderung in das gelobte Land.

Im Rahmen der Lesung wird schnell deutlich, dass Armbruster sämtliche Ergebnisse der umfangreichen Recherche bereits in seinem Buch verwendet hat. Wer im Vorfeld die Chance hatte, das Werk aufmerksam zu lesen, wird daher nicht viel neuen Input erhalten. Dennoch bemüht sich Armbruster, auf Fragen und Einwände des Publikums einzugehen und offenbart ein großes Wissen über den Nahen Osten als Brennpunkt aktueller Politik. Stets kehrt er jedoch zu den historischen und persönlichen Schicksalsbeschreibungen in seinem aktuellen Buch zurück.

Vom jüdischen Deutschen zum deutschen Juden

Vor allem den deutschen und österreichischen Einwanderern fällt es schwer, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Sie erfahren eine doppelte Kränkung: Einerseits sahen sie sich bis zur Vertreibung aus Europa als europäische Bürger, die nun ihrer Sprache, Kultur und Lebenswelt beraubt sind. Andererseits sind die Geflüchteten aus Mittel- und Westeuropa bei den bereits ansässigen zionistischen Juden aus Osteuropa und den russischen Staaten eben genau wegen dieses „deutschen“ oder „europäischen“ Hintergrundes unbeliebt. „Kommst du aus Überzeugung oder aus Deutschland?“, lautete ein Witz der alteingesessenen Juden in Palästina.

Und auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges reißt die Einwanderungswelle nicht ab. Noch immer fühlen sich die europäischen Juden nicht sicher, sind Ausgrenzung und Pogromen ausgesetzt. Wer die Vernichtungsmaschinerie der Nazis überstanden hat, kann außerdem nur schwer mit der deutschen Bevölkerung umgehen. Noch bis ins hohe Alter hinein fragen sich ehemalige Häftlinge, was denn ihre Altersgenossen während des Krieges gemacht haben: „Wir beide waren doch in Auschwitz, ich drinnen und du draußen, du hast doch aufgepasst, dass ich nicht weggelaufen bin.“ Damit stellt sich auch die Frage nach einer möglicherweise sogar vererbbaren Kollektivschuld. Doch diese Thematik bleibt angenehm klein in Armbrusters Buch, wie auch in der Diskussion im Rahmen der Lesung.

Aus Todesangst wird Lebensfurcht

Stattdessen stehen vielmehr die Opfer im Vordergrund und die schrecklichen Erlebnisse, die sie durchleiden mussten. Auch die Vererbung der Traumata an nachfolgende Generationen wird thematisiert: Eltern, die die Bilder sterbender Menschen bis in die Träume verfolgen. Die Angst um die Sicherheit der Kinder, die diesen jegliche Entwicklungsfreiheit nimmt. Die Unfähigkeit, Liebe und Zuneigung zu zeigen, nicht selten emotionale Vernachlässigung oder innerfamiliäre Gewalttätigkeiten.
„Hitler hat auch mein Leben zerstört“, sagt Daniela Sobol, Tochter der KZ-Überlebenden Liesel Binzer, denen Armbruster ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Geprägt ist die Beziehung der Überlebenden „ersten“ zur nachgeborenen „zweiten Generation“ in erster Linie durch Sprachlosigkeit. Die Eltern versuchen, ihre eigenen Erfahrungen zu verdrängen, um ihre Kinder nicht damit zu belasten. Die Kinder nehmen die Existenz eines fürchterlichen Geheimnisses wahr, das sie selbst jedoch nie zu fassen kriegen. Erfahren sie irgendwann doch von den Erlebnissen ihrer Eltern, fühlen sie sich oft ein Leben lang für diese verantwortlich und stecken kaum Energie in die eigene Entwicklung.

Aus der Vergangenheit lernen

In den zehn Kapiteln seines Buches gibt Armbruster nicht nur Überlebende mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten eine Stimme, sondern lässt auch diverse Angehörige der zweiten und dritten Generation zu Wort kommen. Denn auch die Enkel ehemaliger KZ-Insassen fühlen sich von den Erfahrungen ihrer Großeltern betroffen. Sie recherchieren intensiv ihre Familiengeschichten, hören den Alten zu und schreiben deren Erzählungen auf. Und nicht selten ziehen sie daraus wichtige Impulse für Gegenwart und Zukunft.
Für viele junge Israelis ist Deutschland mittlerweile ein wichtiges Ziel. Es zieht sie in das weltoffene und sichere Berlin, das sie dem unsicheren Tel Aviv vorziehen. Die Gefahr, als Minderheit umgeben von einer feindlich gesinnten Mehrheit zu leben, kennen sie nicht, dafür jedoch die ständig drohenden Gefahr religiös motivierter Anschläge und Kriege. Sie wünschen sich Frieden, der nur durch eine gewaltfreie Einigung zwischen Israelis und Palästinensern erfolgen kann.

Sehr geschickt spannt Armbruster den Bogen von den Gräueltaten der Nazis und den Traumata der Überlebenden bis zur heutigen israelischen Gesellschaft, der Politik des Landes aber auch der deutschen Verantwortung für das Geschehen im Nahen Osten. Deutschland trage eine Verantwortung dafür, so zitiert er den israelischen Schriftsteller David Grossmann, „dass Israel nicht in der Lage ist, Frieden zu machen“. Es obliege daher dem deutschen Staat in besonderem Maße, bei der Überwindung des Hasses zu helfen und den Dialog zwischen Israelis und Palästinenser zu fördern. Eine Verantwortung, der wir auch in unserem eigenen Land nachkommen müssen.

Gelungene Auseinandersetzung mit schwieriger Thematik

Insgesamt möchte Armbruster sicher keine politischen Ratschläge geben oder gar Antworten liefern. In seinem Werk gelingt es ihm jedoch, in angenehm leichter Sprache einen Überblick über die Auswirkungen vermeintlicher Vergangenheit bis in unsere heutige Gegenwart zu geben. Auch die schwierige, aber vielschichtige politische Lage Israels sowie die deutsch-israelischen Beziehungen gibt er nachvollziehbar wieder. Immer wieder werden die Leser auf die Fragen zurückgeworfen: „Wie das Unvorstellbare vorstellbar machen, das schier Unbegreifliche begreifbar? Wie das Unbeschreibliche beschreiben, das Beispiellose als Beispiel erzählen?“ Armbruster hat hier sprachlich wie inhaltlich einen guten Weg gefunden.

In der Präsentation seines Buches wirkt Armbruster manchmal etwas unsicher, verwechselt Namen oder verhaspelt sich beim Lesen. Alles in allem vermittelt er jedoch mit gut ausgewählten Stellen einen umfassenden Einblick in sein Werk und die eigene Motivation dahinter und gibt sich Mühe bei der Publikumsinteraktion. Zu empfehlen ist eine Lesung des ehemaligen ARD-Korrespondenten allemal, die Lektüre seines „Willkommen im gelobten Land? Deutschstämmige Juden ins Israel“ ist wärmstens ans Herz zu legen

Willkommen im Gelobten Land? Deutschstämmige Juden in Israel.
Jörg Armbruster. Hoffmann und Campe. 2016.

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