Jan Wagner in der „Schatulle“

von | 14.03.2018 | Stadtgespräch

Nicht nur für Worteweberin Annika war es die erste Lyriklesung überhaupt, sondern auch für die Betreiberinnen der Buchhandlung „Die Schatulle“ in Osterholz-Scharmbeck, wo Jan Wagner am 8. März zu Gast war – mit Alltagseindrücken der besonderen Art im Gepäck.

Die kleinen und alltäglichen Dinge sind es, die es Jan Wagner angetan haben: Giersch, Rettich, Teebeutel – es scheint, als könne Wagner alles zum Gedicht machen. In der „Schatulle“ wird zum Beispiel herzlich gelacht, als Wagner Betrachtungen über einen Lateinlehrer vorträgt. Bezugspunkte zu seinem Alltag kann hier fast jeder finden, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Denn wer von uns hat einen Teebeutel vorher schon einmal als Eremiten betrachtet? Müllmänner beschreibt er, vom Balkon blickend, als aufblühende Gerbera.

Es lohnt sich, genau hinzuhören. Besonders deutlich wird das, als Wagner eine Sestine vorträgt, ein Gedicht, bei dem es besonders auf die Form ankommt. Es spielt mit der Zahl sechs, erzählt Wagner. Sechs Verse à sechs Strophen müsse es geben, dazu sechs Worte, auf die die einzelnen Verse in einem bestimmten Muster enden müssen. Klingt kompliziert, und auch beim Zuhören merkt man, wie sich das Publikum anstrengt, dem Muster zu folgen, bis eine Zuhörerin zur Erleichterung aller darum bittet, das Gedicht noch einmal hören zu dürfen. Manches braucht einfach etwas länger. Solche strengen Formen, erzählt Wagner später, gefallen ihm besonders gut, da sie inspirieren und auf ihre Art Freiheit geben.

Jan Wagner ist auch als Übersetzer tätig, vor allem aus dem Englischen, aber auch aus dem Italienischen. Manchmal, so erzählt er, sei das gar nicht leicht, nicht umsonst gelten Gedichte teilweise als unübersetzbar. Dass sie das nicht sind, davon scheint Wagner überzeugt, aber dennoch: Manchmal müsse man ihnen untreu werden, um ihnen am nächsten zu kommen.

Einiges erfahren die Gäste an diesem Abend über den Autor persönlich. So erzählt Wagner von seiner Vorliebe für Esel – immerhin fast ein Anagramm von „Seele“! In seinen biografischen Prosatexten geht es um die Buchhandlung der Jugend, in der Wagner auch ein Praktikum absolvierte, um die alten Kapitäne, die die Witwen im Küstenörtchen heirateten.

Im Projekt „Fragile – Europäische Korrespondenzen“ des Netzwerks der Literaturhäuser tauschte Jan Wagner Briefe mit dem mazedonischen Lyriker Nikola Madzirov aus. Thema der Briefe sollte die politische, kulturell und gesellschaftliche Situation in Europa sein. Wagner liest einen Brief über Flughäfen vor, den er an Madzirov schickte, darüber, wie er mit einem Koffer voller Käse in Frankreich die Sicherheitsbeamten betörte – mon dieu! – und es gerade noch rechtzeitig mit dem Päckchen Earl Grey ins Flugzeug schaffte. Kleine Begebenheiten, in denen sich für Wagner die Schönheit Europas offenbart. Auch hier sind es wieder die scheinbar nichtigen Dinge, in denen, wenn man genau hinsieht, die Bedeutung liegt. Wenn man aus Wagners Texten eines mitnimmt, dann sicherlich das: Auch im Alltäglichen kann viel Gewicht stecken.

Zum Briefwechsel zwischen Jan Wagner und Nikola Madzirov im Projekt „Fragile“.

Foto: Worteweberin Annika

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