Erinnerungen im Gepäck

von | 05.08.2017 | Belletristik, Buchpranger

In „Die Dame mit dem blauen Koffer“ taucht eine junge Altenpflegerin in die Vergangenheit ein und kann dadurch auch in der Gegenwart endlich Fuß fassen. Worteweberin Annika hat dieses Buch fürs Herz gelesen – das teilweise aber gar nicht ganz so leichte Kost ist.

Hélène sitzt im Liegestuhl am Strand, es riecht nach Sonnenmilch und Salz. Sie beobachtet die Badenden und wartet auf Lucien, der ihr das Lesen beibrachte und den sie liebt. Gleichzeitig sitzt sie im Pflegeheim „Haus Hortensie“, es riecht nach Desinfektionsmittel und alten Menschen. Regelmäßig kommen Hélènes Tochter und Enkel zu Besuch, an allen anderen Tagen hat die junge Pflegerin Justine ein offenes Ohr für Hélène und lernt so alles über die Vergangenheit der über 90 Jahre alten Frau: Wie Lucien und sie sich kennenlernten, vom gemeinsamen Café, der Nachkriegszeit…
Auf Bitten des Enkels schreibt Justine diese Geschichten auf und wird zu Hélènes Chronistin. Zur selben Zeit begibt sie sich auch auf eine Reise in die eigene Vergangenheit. Zufällig wird sie darauf aufmerksam, dass der Zusammenstoß, bei dem ihre Eltern, ihr Onkel und ihre Tante im Auto starben, vielleicht gar kein Unfall war. Was ist der eigentliche Grund dafür, dass sie und ihr Cousin bei den Großeltern aufwachsen mussten? Durch ihre Nachforschungen gewinnt Justine nach und nach Selbstvertrauen.

Eine starke Heldin

Justine ist eine sehr starke Heldin, die der Realität mutig ins Gesicht sieht und gleichzeitig andere Menschen davor bewahren möchte, von der Wahrheit getroffen zu werden. Ihre Arbeit im Pflegeheim liebt sie, obwohl sie bei Weitem die Jüngste dort ist und die Geschichten der Menschen sie kaum loslassen. Doch auch als sich im Laufe des Romans vieles für Justine selbst ändert, bleibt sie sich und dem „Haus Hortensie“ treu. Gleichzeitig ist sie eine Protagonistin mit Bindungsangst, die von der Liebe keine Ahnung hat und sie letztendlich auch nicht dort findet, wo sie danach sucht (und wo man sie als Leser erwarten würde). Ihre ungleiche Beziehung, die man eigentlich kaum so nennen kann, zu einem Mann, dessen Namen sie nicht einmal kennt, ist überraschend unromantisch.

Kein Wohlfühlroman?

Stilistisch bedarf „Die Dame mit dem blauen Koffer“ anfangs etwas Gewöhnung, denn die Autorin (oder die Übersetzerin) versucht mit Vokabeln wie „abknutschen“ den Ton einer Einundzwanzigjährigen zu treffen. Das klingt jedoch eher gestelzt. Davon abgesehen aber überzeugt der Roman. Insbesondere das, was Justine über ihre eigene Familie ans Licht bringt, ist erschreckend. So fröhlich und leichtfüßig wie man durch das Umschlagbild vermuten könnte, ist „Die Dame mit dem blauen Koffer“ nicht. Aber die Schicksale der Figuren berühren und natürlich kommen auch die schönen Momente samt Happy End für Justine nicht zu kurz.

Die Dame mit dem blauen Koffer. Valérie Perrin. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Knaur. 2017.

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