Einhörner, Klischees und viel Rosa: Kein Platz für Pädagogik

von | 01.02.2017 | Bilderbücher, Buchpranger

„Graciella will ein Einhorn sein“ – ja, warum denn auch nicht. Schließlich schlüpfen Kinder – und gerne auch mal Erwachsene, die sich das Kindsein bewahrt haben – gerne in Fantasiewelten oder in Rollenspiele. Im Grunde kann Graciella alles sein, was sie will, wenn sie es nur wirklich will. Das war’s aber auch schon mit der Pädagogik. Einen Mehrwert darüber hinaus bietet dieses Bilderbuch nicht. Zeichensetzerin Alexa wirft es in die Papiertonne.

„Darf man Bücher wegschmeißen?“, fragte vor wenigen Jahren Uwe Kalkowski auf kaffeehaussitzer.de. Meine Antwort darauf lautete: „Ich kann verstehen, wenn man Bücher aussortieren möchte, weil man zu wenig Platz hat oder weiß, dass man bestimmte Titel sowieso niemals lesen wird. Aber wegwerfen würde ich die Bücher nicht.“ Nach der Lektüre dieses Bilderbuches hat sich meine Meinung schlagartig geändert. Denn klar ist für mich: Bilderbücher erziehen mit. Sie vermitteln Werte, erweitern den Horizont, geben eine Orientierung und beeinflussen die (kleinen) Leser im positiven sowie im negativen Sinne. Letzteres gilt für dieses Bilderbuch.

Was will uns Graciella sagen?

Die Protagonistin des Bilderbuches, Graciella, ist eigentlich ein Nashornkind, möchte aber unbedingt ein Einhorn sein. „Ich will ein Einhorn sein! Ich will ein Einhorn sein!“, ruft sie, ein rosa Einhorn-Kuscheltier haltend. Aber die Mutter schüttelt den Kopf. „Biiiiitte!“, jammert Graciella und jammert und jammert und weint. Aber die Mutter, die gerade am Aufräumen ist, zeigt sich genervt: Sie schüttelt mit dem Kopf und macht Musik an, um ihre Tochter nicht hören zu müssen. Dann geht sie, ohne auch nur ein einziges Wort mit ihrer Tochter gewechselt zu haben. (Erst am Ende der Geschichte taucht sie wieder auf, nur um ihre Tochter auf etwas hinzuweisen, was sie nicht tun darf.)

Graciella reagiert mit „Nie darf ich was!“ und findet das total gemein. Doch ersichtlich wird nicht, weshalb das Nashornmädchen ihre Mutter um Erlaubnis fragen muss, wenn es in die Rolle eines Einhorns schlüpfen will. Das Spiel eines Kindes ist etwas so Natürliches, dass es sich automatisch darin vertieft. Es beginnt, die Vorstellung, jemand anders zu sein, anzunehmen – wohlwissend, dass es nur eine angenommene Rolle ist.

Graciella allerdings ist kein Kind, das selbstbestimmt agieren kann. Es braucht die Bestätigung der Mutter, auch wenn es eine erfundene ist. Trotzig läuft das Nashornmädchen nach draußen und rüttelt an der Wäscheleine. „Ich darf das. Hat Mama gesagt!“, meint sie, was natürlich nicht stimmt, aber eindeutig zeigt, dass ihr die Bestätigung, etwas tun zu dürfen, wichtig ist. Als die Wäscheleine reißt, die Kleidung auf sie fällt und sie dadurch in ein Einhorn „verwandelt“, beginnt das Mädchen, sich in ein „Abenteuer“ nach dem anderen zu stürzen. Gefangen in ihrer Rosa-Einhorn-Fantasiewelt begegnet sie so manchen Gefahren, die sie lockerleicht löst.

Voller Rosa und Klischees

Das Cover des Bilderbuches ist tatsächlich ein guter Einblick in den Innenteil. Denn da sieht es genauso rosa und „mädchenhaft“ aus. Natürlich muss Graciella ein Kleidchen, rosa Schuhe und eine Schleife auf dem Kopf tragen. Und ganz dem Bild eines nervigen Kindes entsprechend, ist Graciella ein übellauniges, jammerndes Mädchen, das aus Trotz allen möglichen gefährlichen Blödsinn macht.

Die Mutter wird als Hausfrau dargestellt, die es nicht schafft, ihrer Tochter Aufmerksamkeit zu schenken. Eine, die überfordert ist. Eine, die den ganzen Tag zu Hause verbringt. Beide Rollen, die hier angesprochen werden, erscheinen weder vorbildlich noch sympathisch. Nach der Lektüre wird man mit einem Gefühl zwischen Verwirrung (Was ist die Aussage dieses Buches?), genervt sein (Wieso handeln die Protagonisten so?) und Entsetzen (Wieso wird so etwas veröffentlicht?) zurückgelassen.

Ein Bilderbuch muss keine pädagogischen Ziele verfolgen. Es kann schlicht unterhalten und Quatsch erzählen, solange keine negativen Bilder vermittelt werden. „Graciella will ein Einhorn sein“ tut aber genau das: Das Bilderbuch lebt (kleinen) Lesern vor, dass Kinder nichts dürfen – nicht einmal spielen! – und dass Mütter den Haushalt schmeißen müssen. Es zeigt, dass man nur mit Trotz etwas erreichen kann und dass man sich in Gefahren stürzen muss, um die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu ziehen – auch wenn diese am Ende nur wieder schimpft.

So manchen Büchern wünsche ich Aufmerksamkeit. Solchen, die in irgendeiner Form den Horizont erweitern, ein positives Gefühl hinterlassen oder angenehm unterhalten. „Graciella will ein Einhorn sein“ gehört leider nicht dazu – und wandert mit dieser Warnung in die Papiertonne.

Graciella will ein Einhorn sein. Annette Langen. Illustration: Anne-Kathrin Behl. Nord-Süd Verlag. 2016.

 

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