Ein Plädoyer für Individualität

von | 24.06.2016 | Belletristik, Buchpranger

„Alles geht einmal vorbei, auch ein Werk, so tiefgründig, emotional, ergreifend, ehrlich und ja, auch anstrengend, wie ‚Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969‘ von Frank Witzel“ – So das Fazit unmittelbar nach diesem außergewöhnlichen Leseerlebnis. Erzähldetektivin Annette wurde von dem monumentalen Gesamtkunstwerk auf eine tiefe, innere wie äußere Reise mitgenommen. Für sie hat Witzels Werk das Potential, ein echter Klassiker zu werden.

Die Erfindung der Roten Armee FraktionDie Beatles, Rousseau, Andreas Baader, der Existenzialismus, Psychoanalyse oder die Frage nach Gott – sie alle bilden Ausgangspunkte für die verschiedensten Gedankengänge in Frank Witzel neuestem Werk. Für seinen Roman erhielt er 2015 den deutschen Buchpreis. Seine Leserschaft braucht eine Weile, um in dieses 800 Seiten starke Opus hineinzukommen.

Witzel verwebt moderne Verschwörungstheorien mit Kapitalismuskritik. Er vermischt Kriminalgeschichten mit grotesken Ereignissen. Und er führt philosophische Diskurse mit unzähligen Anspielungen auf Popkultur und Literatur zusammen. Seine Erzählart ist sehr persönlich und hält nicht nur der Gesellschaft einen Spiegel vor, sondern auch dem Autor und seiner Leserschaft. In vielen Gedankengängen des Erzählers werden sich auch die Leser wiederfinden können.

„Mithilfe von drei angebissenen Pfirsichen gelingt der Transfer hin zum Symbolischen“

Dabei verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Fantasie. Es bleibt bis zum Schluss unklar, was wirklich passiert und was nur im Kopf des Erzählers stattfindet. Ein Mann wird – wohl von einem Polizisten, vielleicht ist es aber auch sein Arzt – zu seiner Teilnahme an den Hamburger RAF-Tagen und seiner Rolle bei der Gründung dieser terroristischen Vereinigung befragt. Der Befragte leugnet jedwede Verbindung, hat jedoch allerhand andere Anekdoten zu berichten. Und so wechselt die Erzählung zwischen unterschiedlichen Jahrzehnten, springt von einem Protagonisten zum nächsten und schildert mal aus der Ich-Perspektive, mal aus Sicht einer dritten Person.

Doch kehrt Witzel stets zu seiner Hauptfigur und ihrem inneren Kampf um die Wahrheitshoheit zurück. Es fühlt sich so an, als sei man als Leser im Kopf des Erzählers, als würde man selbst zu diesem werden. In einer scheinbar endlosen Aneinanderreihung von Gedanken, die nicht immer offensichtlich etwas miteinander zu tun haben, die abrupt die Richtung ändern oder gleich vollständig abbrechen, taucht man ein in eine Welt voller philosophischer Fragestellungen, die Erzähler wie Leser im Innersten berühren. Witzel findet dafür einen so treffenden Tonfall, dass es nicht schwer fällt zu glauben, er sei mit all diesen Zweifeln und Unsicherheiten nur allzu vertraut.

„Die Welt ist ein Labyrinth und wir sind gefangen in einem Rhönrad“

Ausgebreitet wird eine ebenso tragische wie spannungsgeladene Lebensgeschichte, in deren Zentrum ein hochsensibler Mensch steht. Seit frühester Kindheit von dem Gefühl geplagt, die Dinge bis ins Kleinste analysieren zu müssen und dennoch keine Antworten finden zu können, scheint dem Jugendlichen ein Rückzug in eine vermeintliche Geisteskrankheit, ein Der-Welt-entrückt-Sein, als einziger Ausweg. Von seinem Umfeld völlig missverstanden und unfähig, dem eigenen Leben selbst eine klare Richtung zu geben, driftet der Protagonist zwischen ausgedachten und wahren Geschichten umher.

Dabei möchte Witzel keine Antworten liefern oder das Rad neu erfinden. Er tut auch nicht so, als seien die in seinem Werk gestellten Fragen nicht schon mannigfach besprochen worden. Gibt es Gott? Was bedeutet seine Existenz (oder Nicht-Existenz) für mein eigenes Leben? Wer bin ich? Wie muss ich sein, um in der Gesellschaft funktionieren zu können? Bin ich krank, wenn ich mich nicht an die Gesellschaft anpassen möchte? Hat die Gesellschaft Recht? Gibt es die Gesellschaft? Bereits zu Beginn stellt der Erzähler, momentan Patient in der Spezialambulanz für Persönlichkeitsstörungen des Universitätsklinikums Eppendorf, fest: „Und immer noch habe ich mit all diesen anderen Fragen zu tun, die für all die anderen selbstverständlich und längst beantwortet sind.“ Steht er seiner Genesung am Ende selbst im Weg?

„Natürlich sind die Nazis an allem schuld“

Diese individuellen und sehr privaten Belastungen finden vor dem Hintergrund ganzer Generations-Konflikte statt. So wird einerseits das schwierige Verhältnis der ersten Nachkriegsgeneration mit ihren Eltern, die den zweiten Weltkrieg miterlebten, thematisiert. Andererseits wird auch aus Sicht der Kriegsjugend und ihren Schwierigkeiten mit den eigenen Eltern erzählt. Die diversen Exkurse sind es, die seinen Roman so lesenswert machen: Die Kritik an unserer heutigen Gesellschaft, unserer Schnelllebigkeit, unserer Technik-Abhängigkeit und unserer Gleichgültigkeit gegenüber vermeintlich beantworteten oder überholten Fragen und Problemen.

Sehr gehaltvoll ist beispielsweise ein Exkurs, der sich mit der Namensgebung von Straßen und Plätzen nach dem zweiten Weltkrieg beschäftigt. Wieso darf so manche nach Tätern benannte Straße ihren Namen behalten, wohingegen es kaum Orte gibt, die nach Opfern benannt worden sind. Werden sie damit nicht erneut Opfer der Geschichte? Gespickt werden die Passagen mit unzähligen, teils offensichtlichen, teils subtilen Anspielungen auf Musik, Literatur, Film und Fernsehen, aber auch auf Geschichte und Politik, Philosophie, Psychologie, Natur- und Religionswissenschaften. Der Autor scheint über ein immenses Wissen zu verfügen.

Ein Hoch auf die Einmaligkeit

„Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist ein Plädoyer für Individualität und die persönliche Auseinandersetzung mit den ganz eigenen Fragen. Als Individuum handelt man nicht falsch oder unsinnig, nur weil man keinen Konventionen entsprechen möchte. Frank Witzel liefert keine Weisheiten oder gar Antworten. Vielmehr regt er zum Selbstdenken an und dazu, der Welt mit all ihren Fragen eine Chance zu geben. Von diesem Buch können wir noch lange zehren.

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Frank Witzel. Matthes & Seitz Berlin. 2015.

 

Bücherstadt Magazin

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