Die Wissenschaft des Übernatürlichen

von | 12.09.2017 | Belletristik, Buchpranger

Deutscher Buchpreis 2017: Séancen sind in London in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts total in. Betrug oder Ausdruck übernatürlicher Kräfte? Dieser Frage ist Zeilenschwimmerin Ronja in „Katie“ von Christine Wunnicke gefolgt.

Florence Cook, ehemals ein kränkliches Mädchen, avanciert schnell zum gefragtesten und angesehensten Medium Londons. Mit dem Erfolg steigt jedoch auch das Interesse der Zweifler. Sind Florence und ihr materialisierter Geist Katie zwei (oder gar nur eine) geschickte Betrügerinnen? Der Wissenschaftler William Crookes, spezialisiert auf Gutachten aller Art, erhält den Auftrag, Florence und Katie zu untersuchen. Crookes nimmt allerlei Experimente vor und hofft dabei gleichzeitig auf die Entdeckung seines Lebens.

Crookes Wissenschaft und Florences Séancen stehen erst einzeln für sich, bis beide – gezwungen durch Misserfolg und äußere Einflüsse – aufeinandertreffen. Fortan beeinflussen sie sich gegenseitig. Oder werden alle von Katie beeinflusst? Ist Katie real? Eine Frage, die eigentlich nie endgültig geklärt wird. Die Wissenschaft steht hier vor einem Rätsel. Aber es ist nur eines von vielen. Crookes ist unterwegs in mehreren Naturwissenschaften gleichzeitig. Er experimentiert und liest kreuz und quer, teils für Geld, teils, um jene Frage zu klären, die ihn seit Jahrzehnten umtreibt: Gibt es neben fest, flüssig und gasförmig noch einen vierten Aggregatzustand? Auf diese Weise ist „Katie“ auch ein Roman über Wissenschaftler und Wissenschaften, der mich ein wenig an „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann erinnerte. (Kleine Anmerkung: Ich kenne nicht viele Romane auf diesem Gebiet.)

„Die Mutter des Mediums war ein kräftiges Frauenzimmer, schlicht und sauber gekleidet, mit einem standhaften Lächeln in ihrem von Natur aus säuerlichen Gesicht. Sie hielt einen Beutel aus grünem Samt auf dem Schoß, dessen Federverschluss sie ab und an schnappen ließ; lautlos zwar, aber lästig.“ (S. 75)

Es ist vor allem auch die Sprache, die an „Katie“ so begeistert. Gleichzeitig leicht antiquiert und dennoch modern und flüssig zu lesen. Christine Wunnickes beschreibt ihre Charaktere kurz und sehr lebendig. Es sind seltsame Gestalten, denen man da begegnet, alle mit ihren Geheimnissen und Fehlern. Insbesondere Crookes und Florence erscheinen mehr als nur ein klein wenig verrückt. Gerade dies ist einer der Gründe, warum am Ende ein Zweifel bleibt, ob Katie nun Betrug oder Besucherin aus einer anderen Sphäre ist. Dieser Zweifel ist es, der „Katie“ zu einem gelungenen Werk der Phantastik macht.

Chrstine Wunnicke war bereits 2015 mit „Der Fuchs und Dr. Shimamura“ für den Deutschen Buchpreis nominiert. Nun steht sie also zum zweiten Mal auf der Longlist. „Katie“ ist ein kurzer, bildhafter und sprachlich künstlerischer Roman, für den ein Sprung auf die Shortlist nicht ausgeschlossen erscheint.

Katie. Christine Wunnicke. Berenberg. 2017.

 

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