Der gefallene Engel

von | 24.12.2013 | Kreativlabor

Der gefallene Engel

oder:
„Von Zeit zu Zeit seh‘ ich den Alten gern“ (*)

Griesgrämig starrte ich aus dem Fenster. Ich wusste nicht, was in mich gefahren war, doch schon seit dem heutigen Morgen fühlte ich mich so. Unwohl, genervt, fehl am Platz. Ich, der ansonsten in seinem Job regelrecht aufging: die Macht, den Zorn und die Wut spüren, Angst und Schrecken verbreiten, fies und gemein sein. Um es mit den Worten dieses Schreiberlings, dieses …. „Menschen“ zu sagen (übrigens ein Terminus, den ich nur mit den Fingerspitzen anfasse): „Ich bin der Geist, der stets verneint. Denn alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element.“ (*)

„M….m….Meister?“, kam es stotternd von hinter mir. Fuchsteufelswild fuhr ich herum. Wer war so bescheuert, mich zu stören, wenn ich in einer meiner Launen war? Ich wollte schreien, doch offenbar reichte allein der Anblick meiner Funken sprühenden Augen aus, um den Störenfried in die Flucht zu schlagen.
Zufrieden mit mir selbst wandte ich mich wieder dem Fenster und damit auch meinem inneren Monolog zu. Was war dieses Gefühl? Es erinnerte mich irgendwie an letztes Jahr, wo es mir etwa zur selben Zeit ähnlich ergangen war. Grrr, es machte mich ganz wahnsinnig!!
Ich beschloss, mich ein wenig abzulenken und meinem absoluten Lieblings-Hobby nachzugehen: Ich würde einen Ausflug zur Erde machen. Vielleicht fand sich ja einer dieser „Menschen“, der dumm genug war, mir seine Seele zu verkaufen.

Als ich die Erde betrat, schneite es. Natürlich! Und ich hatte schon gedacht, meine Laune könne nicht noch schlechter werden. Bah! Ich hasste Schnee!! Und überhaupt fand ich den ganzen Winter, insbesondere die Weihnachtszeit abstoßend. Ich war Feuer gewöhnt, Hitze, Geborgenheit. Und nicht dieses nasse, kalte Etwas.
Knurrend schlug ich meinen Mantelkragen hoch und steuerte zielstrebig das nächstgelegene Café an. In einer Ecke, etwas abseits, saß ein etwas älterer Mann, zeitungslesend, Tee trinkend, offenbar ohne jegliche Gesellschaft. „Eine Herausforderung wahrscheinlich, aber machbar“, dachte ich mir, teuflisch grinsend. Und, eine Unschuldsmiene aufsetzend, trat ich an den Alten heran.
„Ich setze mich zu Ihnen?“ Zugegeben, Höflichkeit war nicht meine starke Seite, aber ich hielt auch nicht allzu viel davon. Der Alte schien überrascht zu sein, aber nicht erschrocken. Aus seinem Grinsen wurde ich nicht wirklich schlau, doch es hielt nur einen Moment an; dann meinte er, auf den Stuhl ihm gegenüber deutend: „Bitte. Seien Sie mein Gast.“
Ich setzte mich. Augenblicklich faltete er die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Er widmete sich seinem Tee und sah sich ein wenig um. Offenbar wollte er höflich sein. Menschen…! Innerlich verdrehte ich die Augen. Was für eine absonderliche Schöpfung! Da merkte ich, dass mich der Alte ansah. „Verzeihen Sie bitte, wenn ich Sie so anstarre“, meinte er entschuldigend. „Es ist nur so, Sie schauen so aus, als hätten Sie etwas auf dem Herzen.“

Normalerweise hätte ich dem wohl ein „Das geht Sie gar nichts an“ oder Ähnliches entgegen geschleudert, aber irgendetwas an diesem alten Mann hielt mich davon ab. Sollte ich mit ihm darüber reden, über das Gefühl? Ich war schon meist ziemlich einsam dort, wo ich lebte. Ich hatte schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, mit jemandem zu reden, aber es war nun mal nicht so, dass es in der Hölle besonders viele Psychologen gab. Zumindest nicht solche, mit denen ich reden wollte. Vielleicht war das also die perfekte Gelegenheit.
„Na ja, ich fühle mich heute irgendwie seltsam. Anders als an anderen Tagen“, begann ich.
„Wie fühlen Sie sich denn?“, fragte der Alte scheinbar interessiert nach. „Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.“
„Ich bin nicht wirklich gut in diesem Gefühls-Erklärungs-Dingsbums“, sträubte ich mich.
„Versuchen Sie’s“, ermunterte er mich.
„Also… normalerweise habe ich nur meinen Beruf im Kopf; er fordert wirklich 110 Prozent meiner Aufmerksamkeit. Und ich liebe meinen Job, aber so was von! Doch jedes Jahr zu dieser Zeit fühle ich mich so… anders. Meine Gedanken driften dauernd in die Ferne ab, ich kann mich nicht konzentrieren. Es ist so, als ob etwas falsch wäre; als wäre ich Teil eines unvollständigen Ganzen. Als würde ein Teil von mir fehlen.“ Aus seinem Lächeln schloss ich, dass ich offenbar rhetorisch nicht ganz so unbegabt war, wie ich manchmal glaubte.
„Da, wo ich herkomme, nennt man dieses Gefühl ‚vermissen’“, meinte der Alte. „Könnte das denn zutreffen? Dass Sie jemanden vermissen?“
„Ja, kann das sein?“, fragte ich mich selbst. Zunächst sträubte ich mich gegen diesen Gedanken. Aber war es wirklich so abwegig? Ich erinnerte mich an eine Zeit, in der ich mich noch nicht so gefühlt hatte. Das war damals gewesen, noch vor meinem… Umzug. Vor meiner beruflichen Neuorientierung. Doch allein der Gedanke an diese längst vergangene Zeit machte das Gefühl schlimmer. Konnte es tatsächlich sein, dass ich ihn vermisste? Dass ich Gott, meinen Ex-besten-Freund, vermisste? Diese Einsicht, dass es mir tatsächlich möglich war, etwas derart Menschliches zu empfinden, regte mich nicht einmal sonderlich auf. Es war eine völlig neue Seite, die ich da an mir entdeckte. Oder vielleicht eine alte, die ich vergessen hatte.
„Tut mir Leid, wenn ich zu neugierig war“, entschuldigte sich mein Gegenüber schon wieder und riss mich damit aus meinen Gedanken. „Ich lasse Sie jetzt in Ruhe.“ Er machte Anstalten aufzustehen.
„Nein! Ich… bleiben Sie doch“, bat ich. „Geht es denn wieder vorbei, dieses Gefühl?“
„Wenn Ihnen dieser Jemand sehr nahe stand, dann muss ich Sie leider enttäuschen“, kam die Antwort. „Ich zumindest habe diese Erfahrung gemacht… War es denn ein Abschied für immer?“
„Ich weiß nicht; kann schon sein“, erwiderte ich zerstreut. „Ich hoffe nicht…“ Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster; konnte dabei aber nicht umhin zu bemerken, dass der Alte lächelte. Er schien sich über irgendetwas zu freuen, doch ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um näher darauf einzugehen. Außerdem hatte ich so langsam genug von diesem Gefühls-Erinnerungs-Trip. Immerhin hatte ich einen Ruf zu verlieren!
Jetzt wollte ich auch mal wieder meinen Spaß haben und beschloss, den Alten auszutricksen. Dass er mir gerade noch ziemlich sympathisch gewesen war, hielt mich von meinen finsteren Machenschaften nicht ab; ich war nun mal der, der ich war, und kannte weder Mitleid noch Güte.
„Es gibt doch sicher etwas, das Sie vom Leben wollen, aber noch nicht haben, oder?“, wechselte ich also das Thema.
„Ja, da wäre tatsächlich etwas…“ Der Alte war offenbar leichter zu haben, als ich gedacht hatte. „Ich würde mich gerne mit einem guten, alten Freund aussöhnen, mit dem ich vor langer Zeit gebrochen habe.“
„Was sagen Sie zu folgendem Deal: Ich will Ihnen in diesem Leben jeglichen Dienst erweisen; Sie werden mir dafür dasselbe im nächsten Leben tun“, unterbreitete ich mein Angebot. „Ich könnte Ihnen auch einen Jugendtrunk anbieten, um Ihr Leben zu verlängern und dies Angebot für Sie lohnreicher zu machen…“
„Einverstanden!“, meinte der Alte ohne lange nachzudenken, sodass ich ganz überrascht war – im positiven Sinne. „Aber Sie, versöhnen Sie sich mit demjenigen, den Sie vermissen. Sonst ergeht es Ihnen wie mir und Sie werden älter und älter ohne Aussicht darauf, alte Streitigkeiten beilegen zu können. Machen Sie nicht denselben Fehler wie ich; warten Sie nicht zu lange. Ich bitte Sie.“

Ohne eine Reaktion meinerseits abzuwarten nahm er mir den Vertrag aus der Hand und unterschrieb. Dann erhob er sich, legte mir zum Abschied eine Hand auf die Schulter und wünschte mir „Viel Glück und Alles Gute“. Und dann war er auch schon verschwunden, noch bevor ich irgendetwas tun oder sagen konnte. Er wusste ja nicht mal, wie er mich herbeirufen konnte…
Wie hieß der Alte überhaupt? Als ich sah, was er unter den Vertrag gesetzt hatte, hielt ich instinktiv die Luft an:

Nein, das konnte nicht sein. Das war nicht möglich. Der Alte konnte unmöglich… Nein, auf keinen Fall!
Dieses Zeichen, ich hatte es schon so lange nicht mehr gesehen. Es stammte aus einer anderen Zeit. Und es war nicht nur irgendein Zeichen, es war meines. Eine Hand, die ein Licht trägt. lux + ferre = der Lichtträger = Luzifer. Ich.
Außer mir hatte nur ein einziges Wesen dieses Zeichen jemals gekannt: mein Ex-bester-Freund, Gott.

(*) … aus Goethes „Faust I“

Silvia

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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