Das Tier um uns herum, das Tier in uns

von | 26.01.2018 | Belletristik, Buchpranger

„Tiere“ ist ein sehr allgemeiner Titel. Was genau soll man sich darunter vorstellen? Auch der Verweis darauf, dass es sich bei diesem Werk um eine Sammlung von Kurzgeschichten handelt, hilft nicht sonderlich weiter. Als Zeichensetzerin Alexa das Buch aufschlug, ahnte sie deshalb nicht, welch tiefsinnige und vielfältige Lektüre sie erwarten würde.

Geschichten, in denen Tiere als Protagonisten fungieren, gibt es viele. Aber nicht alle vermögen es, das Wesen eines Tieres derart einzufangen, dass man beim Lesen das Gefühl bekommt, die Welt durch seine Augen zu sehen. Die Kurzgeschichten in der Anthologie „Tiere“ schaffen das und viel mehr. Sechs namhafte SchriftstellerInnen haben sich mit dem Thema Tiere beschäftigt und es auf unterschiedliche Weise in literarischer Form umgesetzt. Dabei geht es nicht immer nur um „Tiergeschichten“, wie man sie vermehrt kennt, sondern auch um das Tier im Menschen, die Verbindung zwischen Mensch und Tier und glückliche Zufälle, die dank Tieren eintreffen.

Das Tier in uns

Nataša Dragničs Geschichte „Die Unbeschwertheit des Himmels“ gehört zu meinen Favoriten in dieser Sammlung. Gleich zu Beginn des Buches wird man von der Ich-Erzählerin in ihre Welt gesogen. Sie beschreibt ihr Leben von der Kindheit bis zur erwachsenen Frau – und ihre Selbstwahrnehmung. Sie glaubt, den Körper eines Vogels zu haben. Vielleicht ist das so. Vielleicht ist die Welt, in der diese Geschichte spielt, eine fantastische, in der alles möglich ist. Vielleicht aber ist das nur ihre Wahrnehmung, ein Ausdruck ihres Empfindens und ihrer Identifikation: „Wenn ich böse war, wurde ich Takahe oder Kaka, blickte hart und gehässig um mich. Ich wechselte mein Gefieder wie meine Unterwäsche.“

Im Laufe der Geschichte werden Veränderungen sichtbar – innerlich wie äußerlich. Irgendwann legt sie ihr Gefieder ab. Zunächst geht es der Protagonistin gut mit dieser Entscheidung, aber dann wird ihre Sehnsucht nach Fliegen und Freiheit geweckt. Das wahre Ich – und das Tier in uns – kann niemals gänzlich verbannt werden.

Glückliche Zufälle

Franz Hohlers „Die Katze“ unterscheidet sich von den anderen Geschichten vor allem in ihrer Form: Beschrieben wird ein Telefonat zwischen Mutter und Tochter. Allerdings wird nur aus der Sicht der Mutter erzählt. Was die Tochter sagt, kann nur aus den Äußerungen der Mutter geschlossen werden. Das Telefonat erinnert anfangs noch an eine Alltagssituation: Tochter Renate ist gerade im Prüfungsstress und berichtet ihrer Mutter über den Inhalt ihrer Seminararbeit. Die Mutter jedoch versucht, auf das Anliegen ihres Anrufs zu sprechen zu kommen.
Nach einigen Versuchen schafft sie es schließlich, ihre Tochter um einen Gefallen zu bitten: Sie soll auf die Katze aufpassen. Renate ist überhaupt nicht begeistert. Und in Wahrheit mag sie gar keine Katzen. So entwickelt sich das Gespräch in eine Richtung, die zu Beginn noch nicht absehbar war: Ereignisse aus der Vergangenheit kommen ans Licht, glückliche Zufälle, bei denen Katzen eine wichtige Rolle spielen – und die Renates Leben auf den Kopf stellen.

In dieser Geschichte werden Tiere als Begleiter dargestellt. Dankbarkeit und Verantwortung reichen sich hier die Hand. Vordergründig geht es um die Beziehung zwischen Tier und Mensch, hintergründig um die Rolle der Tiere im Leben eines Menschen.

Unterhaltsame Märchen

Neben „Die Unbeschwertheit des Himmels“ und „Die Katze“ hat mich das Tiermärchen „Der die Schlangen tötet“ von Michael Köhlmeier beeindruckt. Von seinen sechs Tiermärchen, die in diesem Buch enthalten sind, ist dies das – meiner Meinung nach – spannendste und interessanteste Märchen. Dies liegt zum einen an der Umsetzung, welche sprachlich an biblische Texte erinnert, und zum anderen an der Geschichte. Stil und Inhalt passen wunderbar zusammen und bieten großen Unterhaltungswert. Teils ist der Text derart absurd, dass einem ein Lachen – oder mindestens ein Schmunzeln – entlockt wird.

„Bald war das ganze Haus voll Schlangen. Da saß die Frau mit ihrem Kind, und sie waren umgeben von Schlangen. Wenn sie ins Bett gingen, waren da Schlangen, wenn sie in den Garten gingen, waren da Schlangen, wenn sie am Tisch saßen und aßen, war der Tisch bedeckt mit Schlangen. […]“

„Von Menschen und anderen Tieren“

Auch wenn ich nur drei Texte näher vorgestellt habe, so sind alle anderen nicht weniger lesenswert. Monika Helfer schrieb über „Cosima und ich“, Root Leeb hat sich mit „Metamorphosen“ beschäftigt und der Herausgeber der Anthologie, Rafik Schami, mit der „Augensprache der Hunde“ und der „Einsamkeit“. Im Nachwort versucht dieser, sich dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier anzunähern. Unterteilt sind die unterschiedlichen Themen in Kapitel, die mit insgesamt acht Farben betitelt sind.

Rafik Schami erzählt eine alte arabische, vorislamische Geschichte nach, wie Gott die Lebensdauer der Tiere bestimmte und den Menschen all jene Jahre gab, die die Tiere nicht haben wollten. Mit dieser Geschichte zeigt er, wie viel der Mensch vom Tier in sich hat. In weiteren Kapiteln geht er unter anderem den Fragen nach: Was ist ein Tier? Welche Rechte haben Tiere? Wie werden die Tiere in der Literatur dargestellt? Warum werden bestimmte Tierarten (wie Hunde und Katzen) besser behandelt als andere? Und warum schreiben die Menschen Tieren Eigenschaften (wie „frech wie ein Dachs“, „mutig und gefährlich wie ein Löwe“) zu?

„Die drei klügsten Säugetiere, die Ratte, der Affe und das Schwein, besetzen die unterste Leiterstufe der Erniedrigung durch Schimpfwörter. Hier entlarvt sich der Mensch. Und in der Umkehrung dichten wir Tieren oberflächlich menschliche Eigenschaften wie Treue, List, Verlogenheit, Gefräßigkeit, Jähzorn und Schüchternheit an.“

„Tiere“ ist eine beeindruckende Anthologie mit vielschichtigen Kurzgeschichten, die auf unterschiedliche Art und Weise das Thema Tiere beleuchten. Ganz nebenbei werden ethische Fragen angerissen, die – vor allem durch das Nachwort – zum Weiterdenken anregen. Und am Ende der Lektüre ist der Titel „Tiere“ auf einmal doch nicht mehr so allgemein und platt, sondern treffend. Denn durch die Geschichten zeichnet sich eine bunte Collage aus Bedeutungen, Bildern und Gedanken ab, die in einem einzigen Begriff gebündelt wird.

Tiere. Rafik Schami, Franz Hohler, Monika Helfer, Root Leeb, Michael Köhlmeier, Nataša Dragnić. ars vivendi. 2016.

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  1. Schmerzliche, unerfüllte, utopische Sehnsucht – Bücherstadt Kurier - […] der letz­ten Antho­lo­gie zum Thema „Tiere“, geht es im aktu­el­len Band nun um ein Gefühl, das sich einer kla­ren…

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