Das Lichtspiel

von | 27.01.2017 | Kreativlabor

Mutter schenkte mir dieses Lichtspiel, bevor sie starb. Sie meinte, es wäre mal Teil eines größeren Mobiles gewesen, welches über meinem Bett gehangen hatte, als ich noch ein Baby war. Ich kann mich kaum noch daran erinnern; höchstens an die Lichtschimmer, welche an meinen Augen vorbeigezuckt sind.
Es hing wohl auch über ihrem Kinderbett, hatte sie weitererzählt, und ihre Mutter, meine Oma, hätte ihr wohl eröffnet, dass sie es von einer Fee geschenkt bekommen hätte.
Alte Legenden aus der alten Heimat. Ich habe damals darüber gelacht. Auch meine Mutter hat meiner Oma nicht geglaubt, doch ihre letzten Worte waren, dass sie es gerne getan hätte. Nun, in den letzten Jahren kann ich ihren Wunsch nachempfinden.
Während ich das Lichtspiel so betrachte, fällt mir auf, dass es nichts von seinem Schimmer eingebüßt hat. Noch immer sammelt sich das Licht im Inneren und verteilt es dann regenbogenartig auf seine Umgebung. Trotz des ganzen Schmutzes und den gefühlt hundert Stürzen, die es unheimlicherweise ohne jegliche Schäden überstanden hat, glänzt es als wäre es gerade neu hergestellt worden.
Fast hypnotisch fesselt es meinen Blick, während ich es an der dünnen Schnur hin und her drehe. Um mich herum vergehen vielleicht gerade nur Minuten, doch es kommt mir vor wie Stunden, während meine Augen immer noch fest auf das Innere des Lichtspiels geheftet sind. Beinah ist mir so, als würde sich darin etwas bewegen, als würde das Licht wabern und sich winden wie bei einer Wanderung durch die nebligen Hügel der alten Heimat.
In meinem Kopf erklingt ein Lachen. Es ist das Lachen meiner Mutter, wenn sie mich beim Spielen beobachtet hat. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie auf der Bank des Spielplatzes gesessen hat und ich ihr zurief, sie solle doch bitte herschauen. Meist führte ich ihr dann einen Radschlag oder eine andere akrobatische Höchstleistung – zumindest in den Augen eines Kindes – vor, was sie mit einem Lachen oder Klatschen wertschätzte.
Während ich weiter in das wabernde Licht starre, kommen weitere Erinnerungen an damals zurück. An die langen Spaziergänge durch den großen Wald, wo den Legenden nach Feen und Trolle leben sollten. Ganz aufgeregt rannte ich durch den Wald und suchte in Baumlöchern nach Koboldbauten oder unter dem Laub nach Feenkreisen. Ich fand natürlich nichts, Spaß gemacht hat es mir trotzdem.
Etwas reißt mich aus meinen Erinnerungen heraus. Jemand hat mich an der Schulter gepackt und schüttelt mich. Dumpf höre ich eine Männerstimme auf mich einreden und nur langsam – zu langsam – kehrt mein Geist zurück in die Gegenwart.
Der Mann wirkt wütend und doch klingt seine Stimme eher besorgt und hektisch. Er sagt etwas von Flugzeugen und einer Sirene, doch ich bin gedanklich noch zu weit weg, als dass diese Worte für mich einen Sinn ergeben könnten. Er lässt meine Schulter los und rennt weg.
Als ich wieder vollkommen bei mir bin, überfällt mich das ohrenbetäubende Dröhnen der Sirene wie ein Schlag in die Magengrube. Eine Sekunde setzt mein Herz aus und ich springe auf. Ohne weiter nachzudenken packe ich meinen Rucksack und sprinte los, den anderen Menschen folgend, die panisch in Richtung Luftschutzbunker eilen.
Früher glaubte ich, dass Feen, Kobolde und Trolle nur Phantasmen und Märchengestallten wären, heutzutage sind sie mir realer und näher als die Reden im Radio, welche über den baldigen Sieg und das Ende des Krieges berichten. Jetzt kommen mir eher diese Worte wie Märchen vor.

Der Junge fegt den Dreck und die Steine beiseite, um an das kleine, glänzende Ding zu kommen, welches durch die Sonne angestrahlt wird. Es sticht ihm direkt ins Auge, als wolle es von ihm gefunden werden.
Als er das Lichtspiel in die Sonne hebt und es betrachtet, ist er wie gefesselt von dem wabernden Licht, welches sich in der Glaskugel hin und her windet. Verträumt erinnert der Junge sich an die Zeit, als alles noch gut war. Zwar ist er zu jung, um die Zeit vor dem Krieg erlebt zu haben, aber dennoch sind die Erinnerungen so klar als wären es seine eigenen.

Geschichtenerzähler Adrian
Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 23.

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