Buchstabenschatten

von | 11.03.2017 | Belletristik, Buchpranger

Für „Vor der Zunahme der Zeichen“ erhält Senthuran Varatharajah nach dem Bremer Literaturförderpreis auch den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2017. Worteweberin Annika hat den facebook-Roman um zwei junge Studenten mit Migrationshintergrund begeistert gelesen.

Über die Funktion „Personen, die du vielleicht kennst“ lernen sich Senthil und Valmira kennen. Sie lebt in Marburg, er in Berlin. Die beiden beginnen einen Chat via facebook, in dem sie sich nicht nur über ihren Alltag als Studenten der Philosophie beziehungsweise Kunstgeschichte austauschen, sondern auch über ihre Vergangenheit: die Flucht von Sri Lanka oder dem Kosovo nach Deutschland, die Kindheit im „Asyllandheim“, das Ankommen in der deutschen Sprache, Verlust, Identität und Tod. Sieben Tage lang schreiben die beiden, zwischen denen sofort eine vertraute Nähe herrscht. Und das, obwohl sie sich noch nie persönlich gesehen, sich wahrscheinlich immer knapp verpasst haben.

„ich habe ins leere geschrieben. und du schreibst zurück, an stellen, an denen ich blind und taub für dich bin.“ (S.50)

„Vor der Zunahme der Zeichen“ findet im Chat statt, besteht nur aus den Nachrichten der beiden Figuren und den Kennungen für Uhrzeit und Namen. Wo sich die Figuren befinden, was sie denken, wenn sie schreiben, erfährt man nicht. Die Sätze von Senthil und Valmira stehen für sich alleine, nicht aber im luftleeren Raum. Denn sie berichten von ganz realen Themen. Von der Gewalt der Armee in Sri Lanka zum Beispiel, deren Zeichen Senthils Mutter erkennt und ihren Mann nach Deutschland schickt, bevor die Zeichen zunehmen.

Der Wechsel zwischen konsequenter Kleinschreibung und korrekter Groß-und-Kleinschreibung sorgt dafür, dass ohne Gewöhnungseffekte ständig aufmerksam gelesen werden muss. So stehen Lesende der Sprache ähnlich fremd gegenüber, wie die Protagonisten Valmira und Senthil in ihrer Kindheit. Die Sprache ist ein wichtiges Thema für die beiden, die über Wortschwellen, Buchstabenschatten und die Rückseite der Zeichen sinnieren. Diese eleganten Wortkompositionen zeichnen Senthuran Varatharajahs Roman aus: Einen Roman voller Sätze, die man sich dick markieren, in Notizhefte schreiben oder in Bilderrahmen an die Wand hängen möchte. Sätze, die zwar nicht eindeutig oder leicht zu verstehen wären, aber die nachhallen.

„vielleicht fallen uns die dinge nicht ein, sondern wir in sie, von links nach rechts, von oben nach unten. Vielleicht dringen wir durch ihre haut wie durch wände, ohne ankündigung, und immer wieder.“ (S.80)

Senthuran Varatharajahs Roman „Vor der Zunahme der Zeichen“ ist ein leuchtendes Sprachjuwel, dem es gelingt, gleichzeitig verspielt und sehr ernsthaft zu sein. Dieses Buch sollte man genießen!

Vor der Zunahme der Zeichen. Senthuran Varatharajah. S. Fischer Verlag. 2016.

 

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