Am Ende der Gleise

von | 04.03.2018 | Kreativlabor

Ich breche aus dem Wald; mein Blut tropft in den Novemberschnee; es ist furchtbar kalt. Blutige Fußspuren. Ich stolpere, taumle, wanke – verliere den Halt, als ich über den Schienenstrang der 47er auf die Gleise stürze. Ich richte mich auf, der weiße Tod ist überall. Eine Schusswunde. Eine Bauchwunde. Meine Wunde. Ich denke, dass sie tödlich ist, doch darf ich diesen Gedanken jetzt nicht zulassen, muss mich ans Leben klammern!

Das erinnert mich an meinen Vater: Er war eine Kakerlake! Immer fokussiert und starrsinnig. Er hatte einen eisernen Willen. Er würde nicht abschweifen, sondern aufstehen und kämpfen! Die DDR aufbauen, den Arbeiter und Bauernstaat verteidigen, hungern und frieren: Er hatte seinen Platz gefunden. Als dann 89 die Mauer fiel, war mein Alter erledigt. Er wusste es noch nicht, er blieb einfach er selbst, er blieb eine Kakerlake. Er zerbrach daran, man fand den alten Revoluzzer in einem Park in Berlin Spandau, im Winter ganz kalt, fast tot. Der Kapitalismus hatte seine rote Seele gefressen. Er war stark, weil er an etwas glaubte, doch ich ahnte, dass die Demokraten recht hatten, wenn sie von Kompromissen sprachen.

Als die letzte Kakerlake im kapitalistischen Deutschland erfroren war, war klar, dass die alten Regeln ihre Gültigkeit verloren hatten. Doch was waren die neuen Regeln? Ich musste raus, über die offenen Grenzen in die Welt. Ich las in Staaken immer die Westzeitungen. So stieß ich schließlich auf einen Geschäftsmann, den sie den „Pfennigfuchser“ nannten, einer der ganz skrupellos die meisten Genossen aufgekauft hatte. Er war in kürzester Zeit sehr reich geworden. Eine Gänsehaut überlief mich: Hier war ich richtig! Ich stopfte die Zeitung in meine Tasche und eilte nach Hause. Ohne mich von meinem Vater zu verabschieden, verließ ich die ehemalige DDR. Er schlief noch. Ich zog die Tür hinter mir zu. Draußen griff ich in die Manteltasche und holte Vaters letzte 50 Mark hervor. Er hätte sie mir nie freiwillig gegeben. Wieso auch, wir waren immer arm gewesen. Ich bin arm. Ich wusste, dass man in dieser Welt reich werden konnte: Träume von Amerika.

Amerika! Die Lichter werfen goldene Reflektionen auf das Dunkel des Wassers. Eine große Stadt erhebt sich vor mir. Sie dampft, sie raucht und sie ist laut. Sie muss laut sein, auch wenn man hier draußen noch nichts davon hört. Die Lichter. Hunderte, Tausende. Es ist eine Pracht, es ist gewollt; es ist Prahlerei. Die Wellen schlagen gegen den Bug. Neben mir die anderen Passagiere. Und da kommt sie. Da steht sie: Die Statue: Die Freiheit. Ich klammere mich an die Reling. Ich mustere sie. Ich weiß es geht bergauf.

Als ich an Land gehe, bemerke ich, dass sich ein Splitter in meine Hand gebohrt hat. Ich bin noch immer arm. Am Anfang mache ich für Geld eigentlich alles. Ich bin nicht alleine. Wir sind eine graue Masse. Wir fallen nicht auf, und wenn doch, geht es schlimm für uns aus. Wir ducken uns. Wir leben zusammen. Wir kennen uns. Man kann den Jungs vertrauen. Meistens. Ich ziehe immer wieder los, bin jeden Tag auf den Beinen. Keiner hier ist so fleißig wie ich, deshalb habe ich immer ein paar Zigaretten mehr, die ich großzügige teile. Wir sprechen miteinander und schieben uns Aufträge zu. Manchmal doziere ich über die Roten. Dann schweigen die anderen und ihre verdreckten Köpfchen nicken mir zu. Nur eine Strategie: So komme ich an die North Rail Eisenbahngesellschaft. Einer der Jungs hat dort eine Anstellung mit bürgerlichem Lohn. Da sie noch einen suchen, zieht er mich ins Vertrauen und nimmt mich mit. Mich kann er wegen Großvater Iljitsch leiden.

Den Menschen zu gefallen lernte ich beim Pfennigfuchser: Ich hatte mich gefragt, was ihn so sehr von der roten Kakerlake unterschied, und war hingefahren. Meine Arbeit war, das Haus ordentlich zu halten. Einmal wollte ich ihn ansprechen, ihn fragen, ihn kennenlernen, sein Geheimnis erfahren, doch er ließ mich mit einer kleinen Höflichkeit stehen. Er ging über den Kiesweg und ein anderer Junge hielt ihm die Tür des Wagens auf. Er hatte mich gar nicht beachtet. Ich bewunderte seine Würde und begann, eine Obsession für ihn zu entwickeln. Ich sprach mit den Leuten im Dorf. Besonders das Aufkaufen der Ostdeutschen Firmen hatte ihn als „harten Hund“ berüchtigt gemacht. Er pfiff auf die öffentliche Meinung, er war zielstrebig und konsequent: eine Kakerlake. Ich durchsuchte auch sein Haus und fand schließlich einen Ordner mit alten Zeitungsartikeln. Beim Lesen wurde mir klar, dass dieser Mann keineswegs auf die Meinung der Öffentlichkeit pfiff. Er tat es nur, wenn der Gewinn groß genug war. Davor war er ein wohlhabender, aber unauffälliger Mann gewesen. Jemand, der Prinzipien hat, der in die Kirche geht; jemand, von dem man nicht erwartet, dass er so etwas tun würde. Die Menschen beschrieben ihn wie eine Kakerlake. Der Unterschied zu meinem Vater war der, dass er keine sein musste. Er war frei. Er konnte einlenken und ein demokratischer Katholik sein oder erbarmungslos zuschlagen und stur auf sein Ziel beharren. Das einzige, was konstant war, war die Steigerung des Gewinns. Für ihn ging es immer bergauf. Mein Vater hingegen war nie frei gewesen. Er hatte einen Weg und als dieser zu Ende war, ging es auch mit ihm bergab.

Ich mochte Lenin nie, aber in NYC hat er mir geholfen, der Junge – ich glaube er hieß Jimmy – hatte an mich gedacht. Ich verstand mich ja so gut mit ihm – er muss verwirrt gewesen sein, als ich mich mit der Aufseherin C. noch besser verstand. Wo war Lenin hin? Ich lachte. Und schon fahre ich mit ihr durchs Land.

C. bewundert meine Klugheit: Ein Mann wie ich solle keinen Hunger leiden. Sie verschafft mir eine Anstellung bei der Bahn. Ihr Vater ist leitender Beamter im Streckenbauamt und hat gute Beziehungen zu allen Eisenbahngesellschaften im Nordosten. Ich lerne ihn eines Tages auf seiner Veranda kennen. Er sitzt in seinem Schaukelstuhl und raucht eine Zigarre. Ländlich gekleidet. Wir sprechen bis in die Nacht hinein, beiläufig stellt er mir eine Anstellung in Aussicht, ich verspüre ein Kribbeln.

Ich komme die nächsten Monate immer wieder zu den Fischers. C. deckt schweigend den Tisch. Der Alte will mir die Anstellung noch nicht geben, freilich ködert er mich – will er, dass ich ihn frage? Ist es ein Test? Ein analytischer? C. sitzt mit am Tisch, manchmal mustert sie mich. Ich werde paranoid, doch ich erinnere mich: Ich bin eine Kakerlake. Ich beiße die Zähne fest zusammen, ich werde den Scheißkerl schon noch besteigen. Ich bleibe freundlich, nett, eloquent und unterhalte ihn so gut ich es vermag.

Zwischenzeitlich reise ich mit der Bahn durch den ganzen Osten. Alle paar Wochen komme ich dann zu den Fischers, wir sprechen den ganzen Abend, ich führe meine Tänze auf und er applaudiert, schaut mich listig an, ködert mich. Seine Tochter neben uns am Tisch, wenn wir fertig gegessen haben, räumt sie den Tisch ab, bringt das Geschirr in die Küche. Es trifft mich wie der Schlag. Ich verstehe. Gerade ist sie in der Küche verschwunden, ich schaue Mr. Fischer an, ich höre das Geschirr klappern, zögere nicht, bitte ihn um die Hand seiner Tochter.

Ich arbeite für den Staat und trage ihren Namen auf der Brust. Wir verdienen und leben gut, C. hat ein schönes Anwesen eingebracht. Es geht bergauf! Bis ich den Bau der Schienenstrecke nach North Dakota stoppe. Die Verträge waren schon geschrieben, aber wenn ich nicht abgebrochen hätte, wäre es ein Millionengrab geworden, auf dem mein Name gestanden hätte. Unpopulär. Der Chef zwang mich vor die Kameras: Es lohnt sich nicht. Jemand hat sich verrechnet, die enttäuschten Erwartungen tun uns leid, – nein, wir geben keine Namen raus. Eine halbe Million Arbeitsplätze sind natürlich schmerzlich, aber bedenken Sie, es wären nur befristete Verträge gewesen. Ob ich denn kein Herz hätte? Keine Stellungnahme zur Gewissensfrage. Bitte? Nein, eine Behörde um Arbeit zu schaffen sind wir nicht. Es geht hier nicht um Herz, es geht um den Verstand, den kann ich Ihnen nur wärmstens anempfehlen. Bitte? Danke. Nein, der Staat ist nicht der Meinung, in der Pflicht zu stehen. Das Einzelschicksal spielt hier keine Rolle, wir denken in größeren Maßstäben. Lassen Sie mich bitte durch – ich bin nur der Entscheidungsträger. Ihre Fragen sind längst beantwortet, wie schon gesagt.

Ich sitze im Zug nach North Dakota, es ist stürmisch draußen. Der Schnee fällt. Alles ging sehr schnell. Ein Aufschrei! Selbst der Präsident hat sich dazu geäußert. Er sei entsetzt über das Verhalten einiger Staatsdiener, der Apparat müsse gesäubert werden. Er hatte allen Ernstes „gesäubert“ gesagt! Eine Entschuldigung im Namen des Staates. Ich steige aus, ein dunkel gekleideter Herr nimmt mich in Empfang und führt mich zum Wagen. Ich werde diese Rede halten und dann verschwinden. Der Fahrer bremst ruckartig. Mein Kopf knallt gegen den Vordersitz. Ich fluche, sehe auf. Vor dem Fenster: Ein dreckiger Junge: Ein lauter Knall! Schmerzen, Blut. Ich stürze aus dem Wagen, taumle auf den Wald zu. Ein weiterer Schuss. Ich taumele weiter. Halte mich fest, stütze mich ab. Atme tief ein. Ich bin eine Kakerlake. Jimmy. Alles dreht sich, ich bin alleine, schleppe mich vorwärts, stürze in das Gleisbett der 47er.

Was ist passiert? Bin ich eingeschlafen? Wie lange war ich weg? Es war als würde ich einschlafen. Ich richte mich auf. Mir ist warm, sehr warm. Den Mörder sehe ich nirgendwo. Ich versuche mich zu erheben, doch es geht nicht. Es ist die 47er kurz vor Kanada, ich bin am Ende der Gleise. Ich bin am Ende! Ich weiß es. Ich sinke wieder zurück. Kraftlos. Endlich. Ich frage mich, ob mich mein Vater wohl verfluchte, als er sein Leben im berlinerischen Neuschnee verlor. Ein Rattern, ein Pfeifen. Hier fahren Züge? Ich spüre die Scheinwerfer, ich höre ein Bremsgeräusch. Der Lokführer wird für Wochen ausfallen… Wenigstens hat er mit jeder Tat etwas gelebt, wirklich geglaubt… Ich habe immer nur für etwas Anderes gelebt. Ich sollte bei Gelegenheit mit ihm darüber sprechen. Es ist laut. Ich schließe die Augen.

Bücherstädter Lukas
Foto: Geschichtenzeichnerin Celina
Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 28.
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