Adventskalender 2017: Türchen 13

von | 13.12.2017 | #litkalender, Kreativlabor

Eine Hütte im Schnee

Als der Winter kam, wurden sie in einer Hütte am Fuß einer ausgedehnten, leicht bewaldeten Hügelkette von einem nordwindgetriebenen Schneesturm überrascht und binnen Stunden eingeschneit. Sie, die Wanderer zwischen Welten, waren ihrem Ziel so nahe gekommen und konnten nun nicht weiter. Die Hügel, sanfte Wellen, die sich erst viel weiter – bereits über der Grenze, die sie umgaben – zu einem Gletschermassiv auftürmten und dahinter steil in die grünen Täler abfielen, waren in den Sturmnächten so unüberwindlich wie das Massiv selbst.
Die Kranken, die Erschöpften konnten nicht hoffen, in der Eiseskälte auch nur die erste Erhebung zu besteigen und so schloss man die Fensterläden, brach fürs erste eine Eckbank und einen Tisch in Stücke, schlug sie ein ums andere Mal aneinander und gegen den nackten Boden, bis sie barsten, und entzündete in der Mitte des Raumes ein Feuer, dessen Rauch durch das undichte Dach abzog. Sie scharten sich um die Flammen und rückten zusammen. Sie saßen auf schmutzigen Decken und ihren Taschen, doch nichts schützte ihre Rücken vor dem Frost. Die Hände streckten sie gegen das Feuer.

Sie waren zu fünft, fünf Verirrte, die nicht wussten, was hinter den Bergen lag, nur dass sie sie besteigen mussten. Vorwärts: Es musste voran gehen, niemals zurück. Hinter ihnen lag ein Schneefeld, jenseits davon eine Stadt, ein vereister Fluss, über dessen schmale Brücke sie sich des Nachts, bei Nebel und Regen hatten stehlen müssen, und dahinter lagen Welten, die sie bereits zu vergessen begannen. Sie waren zu fünft. Der Soldat, der Winzer, die Hebamme, der Schreiber und der Maler. Sie kannten einander nicht. Wenn sie bei Tag, wo es ging, wanderten, ihre Besitztümer in schweren Rucksäcken und einem maroden Leiterwagen mit sich tragend und zerrend, schwiegen sie; wenn es dunkel wurde, schliefen sie, um noch ein wenig Kraft zu finden. Sie aßen nicht gemeinsam, sie tranken im Gehen, sie waren still, bis jetzt, da sie sich gegenüber saßen und niemand es wagen durfte einzuschlafen, wenn er wieder erwachen wollte. Der Winzer sah von seinen Händen auf und begann zu erzählen.
„Bevor ich gewandert bin, hatte ich einen Weinberg. Rote Trauben wuchsen an meinen Reben und ich habe sie am Samstag in der Stadt verkauft.“ Sie sahen ihn an. Ihre Pupillen weiteten sich, als sie sie vom Lodern lösten. „Du bist also Winzer?“ – „Ich bin Wanderer.“ Die Blicke ruhten eine Weile auf dem Winzer. „Ich habe Menschen getötet, bevor ich gewandert bin“, sagte der Soldat. „Du warst also Mörder?“ In der Stimme des Malers lag keine Angst oder Abscheu. „Ja, ich war Mörder“, sagte der Soldat. Die Hebamme nickte und hustete. „Ich habe Kinder zur Welt gebracht.“ Niemand sagte darauf etwas. „Ich habe Kinder aus den Leibern ihrer Mütter gezogen, in die Welt, die erste Welt, gebracht.“ Der Schreiber unterdrückte ein Lachen, das doch einen Moment später aus ihm brach. „Du warst also Mörderin?“ Die Hebamme stimmte in das Gelächter ein. „Irgendwie schon!“ – „Das Feuer beginnt auszugehen“, sagte jemand, sagte der Raum.

Die Wanderer verbrannten einen Stuhl. Das lackierte Holz qualmte dunkel und stank. Sie hielten sich Taschentücher vor die Münder und konnten die Augen nicht mehr offen halten, also sahen sie einander nicht mehr. „Ich habe Geschichten geschrieben“, rief der Schreiber in sein Taschentuch. „Du warst also Lügner“, rief der Soldat. Darauf antwortete niemand. Nur vom allgegenwärtigen Husten gestört, kehrte eine Weile wieder Stille ein, doch diese Stille musste gehen, musste verschwinden, musste in den Sturm hinaus geredet werden.
Die Fünf hatten Gefallen an dem Lärm ihrer Stimmen gefunden und als es endlich nicht mehr qualmte, hob der Maler das Tuch von seinen Lippen und sagte: „Ich bin Maler.“ Wie zum Beweis zeichnete er mit dem Finger die Umrisse eines Porträts vor sich in die Luft. Die Runde nickte anerkennend, als habe er eben ein Meisterwerk geschaffen, doch eigentlich fühlten sie, wie es in ihren Rücken wärmer zu werden begann und hörten gar nicht so sehr auf die Worte des Malers. Erst später verstanden sie, was er gesagt hatte. Er war Maler. Dann erzählten sie sich, was sie noch wussten, und sie sahen sich, wie sie damals ausgesehen hatten. Darüber wurde es hell.

Am Morgen nahm das Schneetreiben ein wenig ab und der Schreiber und der Soldat verließen die Hütte, in ihre Decken gehüllt, um nach Brennbarem zu suchen, während der Winzer über Resten der Glut eine Suppe zu kochen versuchte und die Hebamme im Arm des Malers schlief, der mit den Fingern über die Kiste auf dem Leiterwagen strich. Der Soldat umkreiste die Hütte, wo er einen Stapel gehacktes Brennholz entdeckte. Der Schreiber versuchte seinen Namen in den Schnee zu schreiben, doch er schaffte es nicht, so sehr zitterten seine Beine, also malte er Sterne.
Die Sonne sank schon früh wieder hinter die Hügel, hinter die Berge und als es Nacht geworden war, versammelten die Wanderer sich erneut und begannen zu erzählen. „Du warst Lügner, also glaube ich dir nicht“, sagte der Soldat zu dem Schreiber und es wurde gelacht. „Was ich erzähle ist nicht wahr. So genau kann ich mich gar nicht erinnern. Aber ich weiß, dass es nicht kalt war und dass ich nicht hier war, also ist es eine gute Geschichte.“ Der Maler stand auf, streifte den Arm der Hebamme ab und holte tief Luft, bevor er sprach. „Stellt euch vor, wir wären auch jetzt nicht hier und es wäre nicht kalt.“ „Und wo sollten wir sonst sein?“ „Ich weiß es nicht.“ „Auf einem Raumschiff“, warf der Soldat voller Selbstvertrauen in den Raum, als habe er es sich bereits genau überlegt. „Auf einem Raumschiff auf dem Weg zum Mars. Wir sollten eine Aufklärungsmission sein.“ Die anderen nickten. Ja genau, das sollten sie sein. Sie sollten aufhören, zwischen Welten zu wandern und stattdessen zwischen ihnen durch den Raum gleiten, sanft und schwerelos.

Als auf der Erde der Winter kam und ging, trafen sich die fünf Besatzungsmitglieder der Olympus Ascending in der Schiffmesse zum Abendessen. Der Winzer, der bei ihrem Abflug eine voll ausgestattete Küche und einen Garten für seine Hydrokulturen vorgefunden hatte, trug die Speisen auf, deren Rezepte er aus der Heimat mitgebracht hatte und servierte dazu Wein, den er selbst gekeltert hatte. In der Mitte des runden Tisches loderte ein Flammenhologramm und gab ihnen ein Gefühl von Wärme. Sie prosteten einander zu und speisten. Dann verteilten sie sich auf ihre Zimmer.
Im Zimmer des Malers befand sich eine Staffelei und ein Fenster, das ihm die Weite des Weltalls zeigte. Jede Nacht verbrachte er damit, die Erhabenheit auf Leinwand zu bannen und stapelte die Bilder auf jene, die er mitgebracht hatte. Im Zimmer der Hebamme, die nun, weil sie es sich gewünscht hatte, Schiffsärztin war, wiegte eine leere Krippe, angetrieben von Elektromotoren, und ein Wiegenlied lag in der Luft, das sie selbst geschrieben hatte.
Der Soldat, der nun keine Waffe, sondern einen Werkzeuggürtel trug, schlief im Maschinenraum an der Seite des geräuschlos laufenden Fusionsantriebs, dessen Instandhaltung er sich zur Aufgabe erkoren hatte. Unter seinem Bett befand sich eine Maschine, die des Nachts seine Erinnerungen raubte und die Morde durch Rettungen ersetzte. Das Zimmer des Schreibers war leer bis auf einen Tisch und eine alte Schreibmaschine. Er schlief nicht, stattdessen brütete er über den Tasten und versuchte eine Geschichte zu verfassen, die als erstes Werk der neuen Welt gelten würde. Er war sich des Gewichts seiner Aufgabe bewusst und beschloss keine Zeile zu Papier zu bringen, die es nicht wert war, gelesen zu werden. Eine neue Literatur, nicht weniger.

Zum Frühstück gab es Brot und Butter, zum Mittagessen Pasta und zum Abendessen Fleisch in verschiedensten Varianten. Jeden Nachmittag trafen sie einander auf der Brücke und besahen sich ihre Route, die gestrichelte Linie, die er Bordcomputer auf den Bildschirm zeichnete, und die Zahl der zurückgelegten Meilen, Lichtsekunden. Sie sprachen miteinander darüber, was sie tun wollten, erzählten der Ärztin von ihren Gebrechen, den Kopfschmerzen, den steifen Knochen und ließen sich Therapien verordnen.
Der Maler erzählte von seinem neuen Gemälde, er würde es ihnen bald zeigen und dann auch all die alten Werke. Der Soldat berichtete von den Reparaturen, die er noch zu machen gedachte und beschwerte sich über die Arbeit der Ingenieure, deren Maschinen ständiger Wartung bedurften. Der Winzer gab ihnen Vorschau auf den Speiseplan der nächsten Woche und das Wachstum der Weinreben in seinem hydroponischen Garten. Der Schreiber sagte, dass er noch nichts geschrieben hatte, doch dass es großartig werde, wenn es einmal fertig sei.
Den Rest des Tages verbrachten sie allein. Tief über seine Schreibmaschine gebeugt, gedachte der Schreiber den Worten, die er einmal gehört hatte. Er sei ein Lügner, und befand, dass es nun einmal so sei, und versuchte in seinem Kopf Lügen zu erfinden, Lügen mit großen Bedeutungen, die es wert waren, aufgeschrieben zu werden. Er trank guten Kaffee, begann mit den Füßen zu wippen und konnte wie immer nicht schlafen. Er hatte ja kein Bett.
Der Maler hatte seine Tür versperrt und strich mit dem breitesten Pinsel über seine Leinwand. Die Ärztin schlief und träumte davon, die erste zu sein, die ein Kind auf dem Mars an die Welt holen würde und wusste, dass es ihr eigenes sein musste, nur war sie sich nicht sicher, wen sie denn als Vater für so ein Kind wollte. Niemanden. Also beschloss sie eine der Proben an Bord aufzutauen und sich als einziges Elternteil zur Mutter des Mars zu machen.
Die Maschinen mussten schneller laufen, sie mussten effizienter sein. Der Soldat begann damit, einen Fusionsreaktor zu bauen, der so viel besser sein würde als jener, der sie trieb. Sie trafen sich und erzählten einander davon. Sie erhoben die Gläser auf ihren Erfolg und der Schreiber sagte, er sei schon weit gekommen. Die Olympus Ascending glitt durch die Kälte des Alls, blieb niemals stehen. Vorwärts.

Als die Wanderer nach Monaten des steten Gleitens die Umlaufbahn des Mars‘ erreicht hatten und warteten, dass der Computer ihre Landekoordinaten berechnete, hatten sie schon seit einer Woche nicht mehr miteinander gesprochen. Sie hatten einfach damit aufgehört, denn es gab nichts mehr zu erzählen. Die Pflanzen wuchsen und der Wein reifte. Bilder wurden gemalt und niemals gezeigt. Der Fusionsreaktor hatte einen Zwilling bekommen, doch der funktionierte nicht. Die Ärztin war nicht schwanger und die Besatzungsmitglieder gesund. Das Blatt in der Schreibmaschine war leer.
In der letzten Nacht vor ihrer Landung – sie wussten, dass es Nacht war, weil die Uhr in der Messe über dem Flammenhologramm das sagte – verließ der Schreiber seine Kammer. Er schlich durch die dunklen Korridore, denn er konnte nicht mehr sitzen. Schlich, um niemanden zu wecken. In der Nacht war er stets der einzige, der wachte. Er hatte seit drei Monaten nicht mehr geschlafen. Seine Lügen ließen ihm keine Ruhe. Keine davon war der Niederschrift wert.
Zuerst erreichte er das Zimmer des Winzers, dessen Tür offen stand. Er konnte ihn schnarchen hören und trat ein, an sein Bett an, an dessen Seite eine Weinkiste geöffnet stand und eine weitere voll Fertignahrung. Beide hatte der Winzer mit einem Tuch abgedeckt, doch der Schreiber sah sie.
Dann kam er an die Tür des Maschinenraums, wo er den Soldaten schlafend auf dem Fußboden fand, an der Seite des zweiten Reaktors, der keine Energie produzierte, trotzdem lief und eine Digitalanzeige antrieb, eine Uhr, die stetig nach unten zu zählen schien. Es blieben ihnen noch wenige Tage.
Als nächstes erreichte er die Ärztin, deren Bauch gewachsen war, doch darin lebte nichts. Sie hatte sich selbst einen Ultraschall gemacht und das Herz des Kindes hatte nicht geschlagen. Die Wippe stand still. Die Mutter hielt die Arme um ihren Bauch und weinte, ohne aufzuwachen.
In der Galerie des Malers fand der Schreiber einhundert Leinwände über die Seiten des Raumes verteilt, in Reihen bis zur Decke aufgestellt und gehängt. Sie alle waren schwarz. Mit breiten Pinselstrichen übermalt, nur eines nicht. Das Bild auf der Staffelei in der Mitte war das einer Stadt, an die sich der Maler nicht erinnern konnte. Die Häuser standen schief, ganz falsch, als hätte man sie aus Ruinen, mit verbundenen Augen, wieder zusammengesetzt. Diese Stadt hatte es nicht gegeben und am unteren Bildrand streckten sich bereits drei schwarze Pinselstriche über die Breite, begannen die Stadt zu verschlingen. Das Bild war noch nicht fertig. Da atmete der Schreiber auf und kehrte in seine Kammer zurück.
Er setzte sich an seinen Tisch, legte die Finger auf die Tasten und begann zu schreiben, keine Lügen, nein, es waren niemals Lügen gewesen. Er hatte noch nie gelogen, und jede Wahrheit war groß genug, am Anfang einer neuen Welt zu stehen. Der Schreiber begann eine Geschichte zu erzählen, an die er sich erinnerte, von der er wusste, wie sie geschehen war, von fünf Wanderern um ein Möbelfeuer, in einer Hütte im Schnee.

Codejäger Peter
Illustration: Seitenkünstler Aaron

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