Adventskalender 2016: Türchen 6

von | 06.12.2016 | #litkalender, Kreativlabor

Ein heilsamer Nikolaustag

Mein Großvater lud jedes Jahr am 06. Dezember, dem Nikolaustag, die ganze Familie – seine Kinder, Schwiegerkinder und Enkel – zur Nikolausfeier in seine Stammkneipe, das „Eck“, ein. Dasselbe machten noch zwei weitere Großväter aus der Nachbarschaft, die sich dort regelmäßig auf ein Bierchen trafen.

In dem Jahr war mein Cousin Stefan „etwas schwierig“ gewesen, wie es seine Mutter auszudrücken pflegte. Immer wieder gab es Ärger, weil er etwas angestellt hatte: Mal warf er eine Stinkbombe durch den Briefschlitz in der Haustüre einer zugegebenermaßen unbeliebten Nachbarin; deren Inhaltsstoffe verätzten den Boden im Hausflur, so dass dieser ausgetauscht werden musste. Mal verwüstete er einen frisch angelegten Vorgarten, weil beim Fußballspielen mit Freunden der Ball „aus irgendwelchen Gründen einfach so“ immer wieder dort landete und Stefan ihn wieder rausholen musste. So ging es das ganze Jahr über. Stefans Eltern hatten es wirklich nicht leicht mit ihrem Sohn.

adventskalender_2016-6Am Nikolaustag nun traf sich die Familie im „Eck“, Opas Stammkneipe. Diese hatte am Nikolaustag immer nur für unsere „Geschlossene Gesellschaft“ geöffnet, nie für den Publikumsverkehr.

Wir saßen erwartungsvoll an unseren Tischen. Was der Nikolaus dieses Jahr wohl bringen würde? Stefan hatte morgens in der Schule seiner Klassenlehrerin ein Furzkissen unter das Sitzpolster auf ihrem Stuhl gelegt, welches ein entsprechendes Geräusch von sich gab, als die Lehrerin sich hinsetzte. Die ganze Klasse brüllte vor Lachen, was die Lehrerin sehr wütend machte. Sie telefonierte mit Stefans Eltern, die verständlicherweise „not amused“ waren. „Du wirst schon sehen, was du davon hast! Heute Abend kommt der Nikolaus. Der weiß alles!“, drohte seine Mutter etwas hilflos. „Ha, der weiß auch nicht alles“, meinte Stefan. „Kann der ja gar nicht. Der ist doch den ganzen Tag unterwegs“. Er war sehr überzeugt von dieser Meinung!

Endlich war es soweit. Es klopfte dreimal an die Tür. „Nanu“, meinte Herr Karl, der Wirt. „Wer kommt denn jetzt noch?“. „Das ist bestimmt der Nikolaus!“, krähte Michi, der älteste Enkel eines anderen Opas.

„Jetzt bekommst du aber Ärger!“, raunte ich Stefan zu. Insgeheim gönnte ich ihm die Schelte. Die hatte er verdient! „Wetten, nicht…?“, antwortete Stefan, seiner Sache ziemlich sicher.

Der Nikolaus betrat den Gastraum. Mit ihm kam der Beelzebub, eine wirklich furchterregende schwarze Gestalt mit feurig-roten Augen. Herr Karl bot dem besonderen Gast einen Stuhl an. Dankend setzte sich der Nikolaus. Unter seinen buschigen weißen Augenbrauen blickten blitzende Augen uns Kinder durchdringend an. Mir wurde schon ein wenig mulmig im Magen. War ich auch wirklich „immer“ brav gewesen? Oder wusste der Nikolaus von meinen – wenigen – Verfehlungen im vergangenen Jahr?

Stefan jedenfalls hatte keine Angst. Er war sich sicher, dass der Nikolaus von seinen „Missetaten“ nichts mitbekommen hatte und er wie die „guten Kinder“ ein schönes Geschenk erhalten würde.

Der Nikolaus hatte ein riesiges goldenes Buch bei sich. Darin stand, ob die Kinder brav gewesen waren oder nicht. Davon hing ab, ob sie ein Geschenk erhielten oder eine Rute.

Nach und nach wurden wir Kinder aufgerufen und mussten zum Nikolaus hin. Dieser las dann in seinem goldenen Buch, ob das Kind gut oder böse war. Alle Kinder waren sehr erleichtert, wenn der Nikolaus nur Gutes über sie berichtete und sie mit einem Geschenk zu ihrem Platz zurückkehren durften. Der furchterregende Beelzebub blieb bei den braven Kindern ruhig neben dem Nikolaus auf dem Boden sitzen.

Schließlich wurde Stefan nach vorne gerufen. Festen Schrittes stapfte er zum Nikolaus. Oder zögerte er vielleicht doch ein wenig?

Der Nikolaus blätterte in seinem goldenen Buch und las dann sehr lange und sehr schweigend. Keiner im Raum gab einen Mucks von sich. Die Spannung war zum Greifen.

Endlich blickte der Nikolaus hoch und richtete seinen durchdringenden Blick auf Stefan. „Du bist aber ein schwieriger Fall! Hier muss ich von vielen, vielen Missetaten lesen, die du im vergangenen Jahr begangen hast!“

„Gar nichts weißt du!“, rief Stefan trotzig. „Das kannst du gar nicht, du warst ja nicht hier!“.

„Da irrst du aber gewaltig“, meinte der Nikolaus ruhig und las wieder im goldenen Buch. „Hier steht: Am 01. April hat Stefan eine Stinkbombe durch den Briefschlitz in der Haustüre von Frau Jäger geworfen. Schaden: Der Fußboden im Flur musste erneuert werden“. Stefan war sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Und dann steht hier noch, dass du den neu angelegten Vorgarten der Familie Lukas zertrampelt hast. Die Leute hatten viel Arbeit und Geld da hineingesteckt!“. Stefan zog den Kopf ein.

„Und heute in der Schule, da hast du mit dem Furzkissen deine Lehrerin vor der ganzen Klasse blamiert!“. Nun war Stefan ganz blass! Er sah sehr besorgt aus, besonders als der Nikolaus noch weitere Missetaten aufzählte.

Der Beelzebub, der bis dahin ruhig neben dem Nikolaus auf dem Boden gesessen hatte, wurde immer unruhiger, je mehr Missetaten vorgelesen wurden. Schließlich sprang er mit einem lauten Heulen auf und lief um Stefan herum. Der war jetzt ganz weiß im Gesicht, und er sah sehr ängstlich aus.

Mit einer Handbewegung brachte der Nikolaus den Beelzebub schließlich zur Ruhe.
„Nun, Stefan! Ich weiß alles über dich und deinen Unfug! Deine Eltern hast du damit sehr traurig gemacht. Und deinen Opa auch. Das ist nicht schön!“.

„Es tut mir Leid“, murmelte Stefan mit leiser Stimme. „Ich mache nie wieder Unfug. Ich will ab jetzt ganz brav sein“.

„Nun gut“, meinte der Nikolaus und schaute Stefan fest an. „Ich glaube dir. Im nächsten Jahr komme ich wieder. Ich bin gespannt, was dann über dich in meinem goldenen Buch steht. Weil du aber dieses Jahr kein braver Junge warst, gibt es auch kein Geschenk, sondern eine Rute. Beelzebub…!“.

Der Beelzebub fasste in den groben Sack, den er bei sich trug, und zog eine Rute hervor, die der Nikolaus Stefan überreichte. Wir anderen Kinder lachten schadenfroh.

Ganz kleinlaut und mit hochrotem Kopf kehrte Stefan an seinen Tisch zurück. Seine Eltern und Opa schauten sich an und grinsten. Der Nikolaus und der Beelzebub verabschiedeten sich. Kurze Zeit später kamen Herr Müller und sein Sohn Tobias ins „Eck“…

Stefan hat übrigens seitdem keine Missetat mehr begangen.

Buchschatzmeisterin Rosi

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