Adventskalender 2016: Türchen 16

von | 16.12.2016 | #litkalender, Kreativlabor

Das Versprechen

Schneeflocken wie Glühwürmchen tanzten zwischen den Straßenlaternen. Die Nachtluft glitzerte festlich mit all den Lichterketten und Weihnachtskugeln in den Fenstern. Immergrüne Zweige schmückten den Straßenrand. Doch Yohan sah nichts von dieser winterlichen Idylle, nur seine Spiegelung im Glas des Fensters. Er sah sein Gesicht vor der sanft leuchtenden Dunkelheit, die Falten auf seiner Stirn und die hängenden Mundwinkel. Der Inbegriff von Traurigkeit.
Eigentlich sollte der Heilige Abend eine der schönsten Nächte des Jahres sein, bisher war sie nur eine einzige Enttäuschung. Yohan war allein in seinem Bett aufgewacht, hatte allein das große Frühstück und mittlerweile das festliche Abendessen verspeist und die Zeit dazwischen allein mit dem Schmücken des Tannenbaumes verbracht. Nun lagen die Geschenke um den Stamm verteilt, aber noch immer war Yohan allein. Sein Geliebter fehlte.
Er löste sich von der bedrückenden Aussicht und überlegte, ob er bereits ins Bett gehen sollte. Hauptsache dieser schreckliche Tag hörte endlich auf. Da hörte er das leise Klacken des Türschlosses und Schritte im Flur. Er ahnte, wer das war.
Kyle betrat das Wohnzimmer und lächelte fröhlich. „Nabend Hanni.“ Wollte er wirklich so tun, als wäre alles in Ordnung?
„Du hast allein nach Hause gefunden. Hatte ich nicht mehr erwartet.“
Das Lächeln verschwand. „’Tschuldige. Ich hatte noch was zu tun.“
„Heute? Wir haben frei. Du hast versprochen, dass wir Weihnachten zusammen verbringen.“
„Naja, genau genommen ist heute noch gar nicht Weihnachten. Ist doch auch kein Feiertag.“
Yohan konnte diese dreiste Haarspalterei kaum glauben. Eine noch billigere Ausrede war ihm nicht eingefallen? „Vergiss es! So kommst du mir nicht davon. Du hast versprochen, hier zu sein. Es ist das erste Weihnachten in unserer gemeinsamen Wohnung. Wir wollten, dass es etwas Besonderes wird. Und du stiehlst dich einfach davon.“
„Das ist doch gar nicht wahr. Davongestohlen, Unsinn. Ich hatte etwas zu erledigen, nicht mehr und nicht weniger.“
„Es ist Weihnachten, was auch immer du erledigen musstest, hätte auch noch drei Tage länger Zeit gehabt. Du hast es versprochen und du warst nicht da, das ist die ganze Geschichte.“
„Das tut mir ja auch leid. Können wir jetzt mit dem Fest beginnen?“ Kyle klang genervt. Verstand er nicht, worum es hier ging?
Yohan atmete tief durch. Er gab immer zu schnell nach und an Weihnachten wollte er nicht streiten, immerhin war es das Fest der Liebe. In diesem Jahr war es das Fest der gebrochenen Versprechen. Das wollte er nicht so stehen lassen. „Nein, können wir nicht. Du hast versprochen, hier zu sein, aber warst es nicht. Du hast versprochen, den Baum zu besorgen, aber hast es nicht. Du hast versprochen, dich um die Winterreifen zu kümmern, aber hast es nicht. Du hast versprochen, dies würde das beste Weihnachten werden, aber das ist es nicht. Was soll das? Halt deine Versprechen oder gib sie erst gar nicht, aber hör auf damit, sie ständig zu brechen. Wie soll ich mich sonst auf dich verlassen?“
„Jetzt übertreib nicht so. Dann war ich eben heute nicht hier, morgen ist auch noch Weihnachten. Und dann kommt Silvester. Was macht da der eine Tag schon aus?“ Kyle ging in die Küche. „Ist noch was von dem Essen da?“
„Ernsthaft? Das ist alles, was du zu sagen hast?“
Aus der Küche kam die Antwort: „Ja, hast du doch gehört. Jetzt ess ich erstmal … Hey, hast du die Torte angerührt? Die ist für morgen.“ Kyle trat wieder ins Wohnzimmer ein. „Du kannst doch nicht einfach die Torte essen.“
„Siehst du doch, dass ich das kann.“ Manchmal verstand Yohan seinen Freund nicht, dass ihn das nun so aufregte.
„Nein, kannst du nicht. Die ist für morgen, das wusstest du. Du hast alles kaputt gemacht. Wo krieg ich denn jetzt noch eine neue Weihnachtstorte her?“
„Ich hab alles kaputt gemacht? Das ist nur eine blöde Torte. Dass du nicht hier warst wie versprochen, ist viel schlimmer. Aber nein, jetzt hab ich alles kaputt gemacht?“
Kyle ging in die Küche zurück. „Bete, dass ich das noch retten kann. Wie kannst du einfach die Torte essen? Ich hatte mir das so schön zurechtgelegt.“
„Zurechtgelegt?“ Yohan folgte neugierig in die Küche. „Was hast du dir zurechtgelegt?“
„Na, ich …“, Kyle unterbrach sich selbst. „Das ist eine Überraschung. Und die hast du jetzt kaputt gemacht.“
„Was für eine Überraschung?“
„Wenn ich dir das sage, ist es keine Überraschung mehr.“
„Da die Überraschung offensichtlich ausfällt, kannst du’s mir auch sagen.“
Kyle musterte ihn einen langen Augenblick. „Aber ich wollte dich überraschen. Ich hab mir das so schön vorgestellt, richtig romantisch, weißt du. Ich war den ganzen Tag unterwegs, um die richtige Tischdeko zu finden.“
„Tischdeko?“ Yohan verstand nicht wirklich, worauf sein Freund hinauswollte. Dass Kyle morgen kochen wollte, war keine Überraschung; dass er sich um Tischdekoration Gedanken machte, dagegen schon.
„Es sollte eben alles perfekt sein.“
„Perfekt für was?“
Kyle schwieg wieder. Yohan konnte sehen, wie es im Kopf seines Freundes arbeitete: Sollte er die Überraschung verraten oder nicht? Dann nickte Kyle entschlossen. „Komm mit“, und streckte Yohan seine Hand hin. Er zog ihn ins Wohnzimmer zurück. Er löschte alles Licht außer dem Schmuck des Weihnachtsbaumes. Dann ging Kyle vor ihm auf die Knie und seine Hände zitterten, als er Yohans umschloss. „Ich hab mir ewig den Kopf zerbrochen, was ich dir schenken kann. Du gibst mir so viel und machst mich so glücklich. Mit dir ist mein Leben … vollkommen. Ich wollte dir das beste Geschenk machen, weil du das Beste für mich bist. Ich …“ Er öffnete das kleine Kästchen, das er aus seiner Hosentasche nahm, und der Ring glänzte im Schein des Weihnachtsbaumes. „Willst du mich heiraten?“
„Ich … Natürlich will ich.“ Yohan beugte sich zu Kyle hinunter und küsste ihn innig. „Ich liebe dich.“ Unwichtig war ihr Streit. Kleinigkeiten des Alltags mussten verblassen gegen diese Freude und gegen die Liebe, die nun an seinem Finger leuchtete. Er liebte an Kyle, dass er sich gänzlich in einem Vorhaben verlieren konnte, voll mit enthusiastischer Energie verschrieb er sich einer Idee und verlor so manches andere aus den Augen. Natürlich passierte ihm das auch, wenn er solch eine Überraschung plante.
„Ich liebe dich“, hauchte Kyle zwischen seinen Lippen. „Entschuldige, dass du so einen furchtbaren Tag hattest. Dabei wollte ich, dass es der schönste Tag in deinem Leben wird und das beste Weihnachten.“
Er küsste ihn wieder. „Es ist das beste Weihnachten. Und morgen verbringen wir zusammen.“
„Versprochen.“ Kyle lächelte.
Zusammen saßen sie auf dem Sofa und genossen die schönste Nacht des Jahres. Gegen die sanft leuchtende Dunkelheit spiegelten sich ihre Gesichter im Glas des Fensters. Sie sahen fröhliches Lachen und zärtliche Küsse. Der Inbegriff von Liebe an diesem Fest. Die winterliche Idylle lag ihnen zu Füßen. Den Straßenrand schmückten immergrüne Zweige. In den Fenstern glitzerte mit Lichterketten und Weihnachtskugeln festlich die Nachtluft. Zwischen den Straßenlaternen tanzten Schneeflocken wie Glühwürmchen.

Jan Laumeier

Über den Autor:
In Greifswald studierte Jan Laumeier Sprachwissenschaft und trat mit dem Autorenverein GUStAV zu Lesungen auf. Das Publikum lachte, weinte und staunte mit seinen Kurzgeschichten. Er schreibt von Problemen der Liebe und des Alltags, von Mythen, Magie und Tod, von fremden Kulturen und Sprachen. Sein Lieblingszitat ist: „Habe keine Angst vor der Perfektion: du wirst sie nie erreichen.“ (Salvador Dalí); www.tintenloewe.jimdo.com

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