Zwischen Freundschaft und Liebe

von | 12.06.2015 | Belletristik, Buchpranger

„Weiße Nächte“ von Fjodor M. Dostojewski ist erstmals 1848 unter dem Titel „Белые ночи. Сентиментальный роман“ (Weiße Nächte. Ein gefühlvoller Roman) erschienen. Das Werk wurde mehrfach verfilmt, zuletzt 2011 in den USA: „Venice Shore Nights“. Zeichensetzerin Alexa hat die Liebesgeschichte, die heute als Weltliteratur gilt, mal unter die Lupe genommen.

Die Geschichte um zwei junge Menschen spielt in Sankt Petersburg, einer Stadt, in der im Sommer weiße Nächte herrschen. Hier geht die Sonne nur für kurze Zeit unter, sodass es auch nachts noch dämmrig ist. In der Literatur ist das Wetter nie ein Zufall, auch in diesem Werk nicht: die Stimmung zwischen den beiden Protagonisten ist bis zum Ende nicht eindeutig. Sie ist wie die Weiße Nacht ein Gefühl zwischen Tag und Nacht.

Eines Nachts begegnet ein junger Mann, aus dessen Sicht in der Ich-Form erzählt wird, einem 17-jährigen Mädchen. Er merkt, dass es weint, folgt ihm, möchte es trösten. Bald stellt sich heraus, dass Nastenka vergeblich auf ihren Liebsten gewartet hat. Dieser hatte ihr versprochen, sie in genau einem Jahr am gleichen Ort und zur selben Zeit zu treffen. Vorher sei es ihnen nicht möglich, zusammen zu sein. Nun sei er aber schon seit drei Tagen zurück und hätte sich noch nicht blicken lassen, erzählt Nastenka dem jungen Mann, der immer mehr zu einem Freund wird.

Zwischen Freundschaft und Liebe

„[…] ich habe Sie nämlich schon lange gekannt, Nastenka; denn ich habe schon lange jemanden gesucht, und das ist der Beweis dafür, daß ich gerade Sie gesucht habe, und daß unsere jetzige Begegnung eine Fügung des Schicksals war […]“ (S. 41)

Der junge Mann, der sich auf den ersten Blick in sie verliebt hat, hört sich ihre Geschichte geduldig an und lässt sich nicht anmerken, wie sehr ihn ihre Worte schmerzen. Mehr noch: er will ihr, selbstlos wie er ist, sogar helfen, ihren Liebsten wiederzutreffen. Nastenka nimmt sein Angebot an, ist so entzückt über die Warmherzigkeit dieses jungen Mannes, dass sie sich auch weiterhin nachts mit ihm treffen will.

Sie gehen spazieren, sie sitzen auf einer Bank, sie erzählen sich Geschichten aus vergangenen Zeiten. Er über seine Einsamkeit als Träumer, sie über ihre Begegnung mit ihrer großen Liebe. Ihre Freundschaft wächst und wächst, bis auch Nastenka glaubt, sich in den jungen Mann verliebt zu haben. Aber dann taucht plötzlich ihre langersehnte große Liebe auf…

Zwischen Gefühl und Verstand

Die Novelle, die anfangs noch sehr ruhig beginnt, endet in einem Gefühlschaos, dem man sich nicht entziehen kann. Man schwankt – ebenso wie das Mädchen – zwischen den jungen Männern, und fiebert der Auflösung entgegen. Die Entscheidung Nastenkas vermag man kaum einzuschätzen, zu sehr sind ihre Handlungen von Gefühlen geleitet, als dass man sie mit Logik erklären könnte.

Beeindruckend haucht Dostojewski seinen Figuren Leben ein, indem er ihnen eine individuelle Stimme gibt. Die Art wie der junge Mann seine Geschichte erzählt und wie er im Dialog spricht, unterscheidet sich sehr von der des Mädchens. Hier wird der Charakter der beiden Figuren deutlich: er als einsamer Träumen, in dessen Erzählung intertextuelle Bezüge einfließen (Puschkin, E.T.A. Hoffmann, Wassiljewitsch u.a.), da er sich – zurückgezogen von der Außenwelt – mit diesen beschäftigt hat; sie als naives Mädchen, das von der Großmutter unter Hausarrest gestellt wurde und die Gefühle unterdrücken musste, entwickelt den Wunsch auszubrechen.

„Weiße Nächte“ ist eine vielschichtige, sentimentale Novelle, zu empfehlen für ruhige Stunden im Garten oder auf dem Balkon an warmen Sommernächten.

Weiße Nächte. Fjodor M. Dostojewski. Übersetzung: Hermann Röhl. Insel Verlag. 2011.

[tds_note]Mehr über das Buch „Weiße Nächte“ erfahrt ihr morgen (13.06.15), ab 11 Uhr bei den Feuilletönen:
www.feuilletoene.de/live.[/tds_note]

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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