Zum 70. Geburtstag Bernhard Schlinks: Der Vorleser

von | 03.07.2014 | Belletristik, Buchpranger

Es ist kein Wunder, dass der 1995 erschienene Roman als Schullektüre so beliebt ist, strotzt er doch nur so vor Symbolik. Sei es das rituelle Reinwaschen Hannas und Michaels oder Hannas Umgang mit ihrer eigenen Schuld. 

Die Schuld, die alles bewegt

Wenn man „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink in einem Wort zusammenfassen müsste, dann wäre es: Schuld. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, die sich um Michael Berg dreht, zu Beginn noch ein ganz normaler 15-jähriger Bursche, der aufwächst zwischen Nachkriegszeit und Wirtschaftswunderjahren. Eine Epoche also, in der die kollektive Schuld der Deutschen unter den Teppich des aufkeimenden Wohlstandes gekehrt wird. Während die Alten verdrängen und die Jungen noch schweigen, trifft Michael die ältere Hanna Schmitz. Sie ist 36 und er erbricht sich. So lernen sie sich kennen und beginnen eine sonderbare Liebesbeziehung, die Michael für sein gesamtes Leben prägen soll. Und auch hier wird das Thema Schuld aufgegriffen, in dem Schlink seinen Protagonisten eine Liebe erfahren lässt, die per Definition schon keine gesellschaftliche Akzeptanz erfahren kann und selbst Michaels Leben als Erwachsener negativ beeinflusst.
Die Beziehung basiert dabei auf klaren Ritualen: Bei jedem Treffen liest Michael der erwachsenen Frau vor, dann baden sie und schlafen schließlich miteinander. Während Michael sich zunehmend in Hanna verliebt, bleibt diese für den Leser jedoch immer eine Fremde. Zum einen, weil die Geschichte gänzlich aus Michaels Perspektive erzählt wird, zum anderen weil Schlink es versteht, die Person Hanna stets unnahbar, phasenweise kalt wirken zu lassen. Alles, was wir von ihr erfahren, entspringt allein Michaels Wahrheit, die er sich über die Jahre zusammengereimt hat. So bleibt Hanna dem Leser ein Mysterium. Und so plötzlich sie in Michaels Leben aufgetaucht ist, so plötzlich verschwindet Hanna wieder.

Erst während seines Jurastudiums treffen die beiden wieder aufeinander und zwar im Gericht, das Michael während eines Seminars zur „Vergangenheitsbewältigung“ besucht. Dort erkennt er Hanna auf der Anklagebank. Denn, wie Michael und der Leser parallel erfahren, Hanna war Aufseherin in einem Konzentrationslager und muss sich nun für die Gräueltaten verantworten. Erst im Verlauf des Prozesses dämmert es Michael dabei, dass Hanna Analphabetin ist und ihr gesamtes Leben lang versucht hat, dieses Handicap vor der Gesellschaft zu verbergen. Statt im Prozess ihre Schwäche zu offenbaren und sich dadurch zu entlasten, entscheidet Hanna, die Schuld auf sich zu nehmen. Während Michael mit der Schuld leben muss, eine Naziverbrecherin geliebt zu haben. Dabei spiegelt Bernhard Schlink die Gesellschaft im Kleinen sehr gut wider. Sei es nun der Richter, der im Namen des Kollektivs über Hanna urteilen soll und so der gesellschaftlichen Pflicht nach Vergangenheitsbewältigung nachkommt, oder Michael selbst, der Hin- und Hergerissen ist zwischen seinem Schrecken und dem Gefühl Hanna beistehen zu müssen.

Hanna wird verurteilt und Michael lässt über die Jahre einen Teil ihres Rituals aufleben – das Vorlesen. Er schickt ihr besprochene Kassetten ins Gefängnis, wart ansonsten aber Distanz zur ehemaligen Geliebten, der er damit jedoch ein Stück Freiheit gibt. Denn Hanna lernt mithilfe der Kassetten Lesen und Schreiben und hat zum ersten Mal die Möglichkeit sich selbst mit ihrer Schuld auseinanderzusetzen.

Es ist kein Wunder, dass der 1995 erschienene Roman als Schullektüre so beliebt ist, strotzt er doch nur so vor Symbolik. Sei es das rituelle Reinwaschen Hannas und Michaels oder Hannas Umgang mit ihrer eigenen Schuld. Aber „Der Vorleser“ gehört sicherlich zu einem der wenigen Schulbücher, die man auch nach Klassenarbeiten oder Klausuren nochmal in die Hand nimmt. Ob Hanna ihre Entscheidung am Ende aus gebrochenem Herzen oder aus Gewissenskonflikten trifft, darüber können Michael und der Leser nur mutmaßen. Es ist wie mit der Schuld, man kann sich ihr stellen, die Konsequenzen tragen – oder auch nicht.

Ann-Christin

Weitere Informationen:

Bernhard Schlink ist einer der meistübersetzten deutschen Gegenwartsautoren. National und international ausgezeichnet, das Werk übersetzt in 53 Sprachen, hatte er seinen Durchbruch mit dem Roman „Der Vorleser“ – dem ersten deutschen Buch, das es auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste schaffte. 2008 wurde der Roman mit Kate Winslet (Hanna Schmitz), David Kross (junger Michael Berg) und Ralph Fiennes (Michael Berg) verfilmt.
Bernhard Schlink wird an seinem Geburtstag im Interview mit Ulrich Wickert bei Wickerts Bücher auf NDR Kultur am 6.7.2014 um 13:00 Uhr zu hören sein. Am 5.7.2014 ab 8:30 Uhr, liest er auf NDR Kultur vorab aus seinem neuen Roman „Die Frau auf der Treppe“, der ab 27. August im Buchhandel erhältlich ist.
Ab September 2014 geht Bernhard Schlink auf Lesereise.

Titel: Der Vorleser; Autor: Bernhard Schlink; Verlag: Diogenes; Erscheinungsjahr: 1995

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