Wie die Welt den Bach runter geht

von | 19.08.2019 | Belletristik, Buchpranger

Im neuen, genialen Bestseller „GRM – Brainfuck“ von Sibylle Berg wird eine dystopische, dennoch nicht unrealistische Welt präsentiert. Kritisch zeichnet sie in Romanform nach, was passiert, wenn Kapitalismus und Neoliberalismus vorherrschen. Geschichtenzeichnerin Celina taucht in die Welt von GRM ein.

Die Protagonisten dieses Werkes sind die vier Kinder Don, Karen, Hannah und Peter. Sie erleiden allerhand Schicksalsschläge und müssen sich durch eine asoziale, hoch digitalisierte und vom Geldgewinn der Reichen dominierte Welt kämpfen.

Die Geschichte startet in der Stadt Rochdale in England, wo die gesellschaftlich ausgeschlossenen und sozial benachteiligten Kinder sowie ihr Umfeld ins Visier genommen werden. Ihre Lebenslagen wirken hoffnungslos und es scheint kein Entkommen aus der misslichen Situation zu geben. Die Kinder – die fast keine Kinder mehr sind – erleben, jeder auf seine oder ihre Weise, Grausamkeit, Erniedrigung, Herabfälligkeit und Demütigung. Gemeinsam ist ihnen die Musik Grime (englisch: Schmutz). Es ist ein Stil aus Großbritannien, der seine Wurzeln im Hip-Hop und der elektronischen Musik hat. Die Richtung erscheint roh, aggressiv, düster und greift textlich gesellschaftliche Probleme auf. Grime wurde von Berg abgekürzt als Titel des Buches verwendet.

Zuerst werden im Roman die einzelnen Vor- und Lebensgeschichten der Kinder erzählt, bis diese aufeinander- und zusammentreffen. Diese Erzählstruktur ist hilfreich, um die folgenden Zusammenhänge und ihre weiteren Handlungen zu verstehen.

Realitätsbezug

Die Charaktere und ihre jeweiligen Lebensgeschichten in dieser äußerst verkommenden Welt sind zwar fiktiv, dennoch besteht ein Realitätsbezug. Man hat das Gefühl, dass die Handlung in unserer heutigen Zeit spielt und zugleich in der Zukunft. Zum einen werden aktuelle Themen – wie der Brexit oder die Digitalisierung – sowie ihre negativen Auswirkungen, die bereits jetzt zum Teil bestehen, aufgegriffen, und zum anderen wird zugespitzt dargestellt, wohin dies alles weitergedacht führen könnte. Die Schieflagen und krassen Tendenzen und welche Ausmaße diese annehmen können, werden einem beim Lesen erschreckend bewusst. Man wird zum Denken über Zukunftsfragen angeregt.

Dass die Handlung des Romans nah an der Realität ist, zeigt sich auch darin, dass Sybille Berg den Neoliberalismus aufgreift. Ein kleiner Exkurs für alle, die wie ich diesen Begriff noch einmal nachschlagen möchten. Auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung ist dies unter Neoliberalismus zu finden:

„Denkrichtung des Liberalismus, die eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit den entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum an den Produktionsmitteln, freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit anstrebt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft jedoch nicht ganz ablehnt, sondern auf ein Minimum beschränken will.“

Dies stellt Berg vorrausschauend dar, indem sie unter anderem aufzeigt, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird und wie es zu immer mehr Privatisierungen vom Wasser bis hin zur Polizei und dem Militär kommt. Die Regierung tut dagegen jedoch nichts, während Wirtschaftsbosse sagen, dass die Märkte sich schon von alleine regulieren werden.

Weitere Themen im Buch sind Überwachung, Sozialsystem, Grundeinkommen, technische Innovationen, Missbrauch und Vergewaltigung.

Einzigartiger Schreibstil

Man hat das Gefühl, als würde Berg die Charaktere kennen. Sie gibt wieder, was diese denken beziehungsweise welche Thematiken sie gerade beschäftigen. Dabei werden auf gekonnte Art Worte, Ausdrücke und Sichtweisen der jeweiligen Figuren aufgegriffen.

Nicht nur die Protagonisten, sondern auch die Nebencharaktere werden lebendig, da ihre Lebensgeschichten und Denkweisen ebenso dargestellt werden. Durch die vielen Perspektiven unterschiedlichster Personen, auch der reichen und privilegierten, erhalten Leser einen umfangreichen Einblick in die Welt von GRM. Dabei nimmt Berg kein Blatt vor den Mund. Auch unangenehme Gedanken von Menschen werden offenbart. Generell ist das Geschriebene relativ leicht verständlich und nachvollziehbar verfasst.

Ein weiterer genialer Punkt ist, wie der Wechsel von Person zu Person und somit öfter auch von Örtlichkeiten strukturiert ist. Es wirkt wie genau gesetzte Schnitte im Film, welche einen Übergang einleiten und zu verstehen geben, an welcher Stelle und bei welcher Person die Erzählung fortgeführt wird.

Brainfuck

Bereits beim Lesen des Untertitels wird einem bewusst, dass in „GRM“ eine krasse und hoffnungslose Welt geschildert wird. Sibylle Berg schafft hier einen Bestseller, der den Zahn der Zeit trifft. Die kritische Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Thematiken und den daraus resultierenden Fragen an die Zukunft wird durch die Erzählungen im Roman erfahrbar gemacht und regt zum Nachdenken an.

GRM – Brainfuck. Sibylle Berg. Kiepenheuer & Witsch. 2019.

 

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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