Wenn Paragraphen persönlich werden

von | 15.07.2015 | Belletristik, Buchpranger

Eine Richterin in Großbritannien. Fälle, die höchst grenzwertig sind und über das Weh oder Wohl von Kindern entscheiden. Eine heile Welt im Reichtum, im Erfolg, voller Paragraphen und Gesetze. Alles wird logisch erklärt, alles belegt und geplant. Fakten, Referenzen und Prezedenzfälle. Und dann kippt Fionas scheinbar heile Welt.

Fionas Ehe, in deren Sicherheit sie sich glaubt, droht sich zu verändern. Es folgt die Hilflosigkeit, denn eine Lösung lässt sich nicht mit Gesetzesentwürfen belegen. Um sich abzulenken, stürzt sich Fiona in die Arbeit, behandelt einen Fall, in dem es um die Behandlung eines Jungen geht, der als Zeuge Jehovas keine Bluttransfusionen erhalten will. Ein Fall auf dem Papier. Alles, was sie will, ist es, den Fall wasserdicht zu machen, keine Lücken für Einsprüche zu lassen. Doch so einfach ist es nicht. Am Ende entscheidet sie sich, den Jungen persönlich kennenzulernen und zu sprechen, um ihre Einschätzung festigen zu können. Der Fall auf dem Papier springt plötzlich in ihr reales Leben und mit einem Mal kann sie nichts mehr damit erklären und beschreiben, was sie jahrelang so meisterlich getan hatte. Das, was ein Mensch denkt, fühlt und wie er danach handelt, kann man nicht mit Paragraphen erörtern. Dies muss auch Fiona bitter erfahren.

Das Buch „Kindeswohl“ beginnt so trocken wie die Gesetzestexte der Juristen. Genaue Beschreibungen bis ins Detail, aber nichts davon wird mit emotionaler Verbundenheit beschrieben. Wenn man sich in London auskennt, ist es kein Problem, den Arbeitsweg Fionas genau nachzuverfolgen. Selbst die Beziehungskrise verliert sich erst einmal in Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit. Dieses Stilmittel wirkt beim Lesen zunächst etwas stumpf und trocken, doch erst später, als der Junge als Person und nicht als beschriebener Fall in einer Akte in Fionas Leben tritt, bemerkt man den stetigen Wandel. Die Emotionslosigkeit ändert sich, mit einem Mal lassen sich viele Dinge nicht mehr rational erklären. Es sind Gefühle im Spiel, wie zum Beispiel die Verbundenheit zur Musik. Oder Gespräche, die sehr tief gehen, persönlich werden und noch lange nachwirken.
Erst jetzt wird klar, dass diese trockene und detailverliebte, aber distanzierte Art zu Schreiben Stilmittel ist und nun, als die Emotionen Einzug halten, an dieser heilen Welt kratzen. Wie ein perfektes Bild, das zu Boden fällt, bricht es und eröffnet einen Blick auf eine andere Welt, die viel wertvoller ist. Nicht so perfekt, aber voller Leben und Echtheit. Voller Gedanken, Leid und Freude. Mit allen Farbschattierungen und Grautönen, die die Welt zu bieten hat. So wie das Leben eben spielt.

Ian McEwan schafft ein ungewöhnliches Werk. Eins, das man nicht vom ersten Moment an lieben muss. Eins, das man erst einmal kategorisieren muss. Und kaum hat man dies geschafft, wandelt es sich wieder und wird zu einer lebendigen Erzählung, die sehr viel Tiefe und Emotion besitzt, sodass man es am Ende weglegt und mit einem ganzen Haufen voller Gedanken zurück bleibt. Eine wandelbare und schließlich spannende Lektüre.

Elisabeth

Kindeswohl, Ian McEwan, Mirko Bonné, Diogenes, 2015
Weitere Besprechungen gibt es hier: Feuilletöne, BücherKaffee.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

2 Kommentare

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      Ja richtig! Der Anfang war recht trocken durch die ganze, sehr distanzierte und rationale Erzählweise. Aber sobald dann tiefer in der Gefühlswelt gegraben wurde, umso besser war es mit dem Lesefluss und am Ende musste ich erst einmal Luft holen!

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