In den letzten Jahren setzt der Comic-Gigant Marvel viel auf Veränderung und das vor allem bei seinen Helden. Alte Helden sterben, ziehen sich zurück oder übernehmen andere Rollen und so kommen neue Helden, die ihren Platz und ihren Namen übernehmen. Geschichtenerzähler Adrian hat sich die aktuelle „Ms. Marvel“ mal genauer angesehen.
Kamala Khan ist 16 Jahre alt, wohnt in New Jersey, liebt es Fan-Fiction über die Avengers, vor allem über ihr großes Idol Carol Danvers alias Captain Marvel, zu schreiben und ist unzufrieden mit sich selbst. Nicht nur, dass sie davon träumt, besser auszusehen – auch hier ist die blonde und starke Carol Danvers ihr großes Vorbild – und beliebter zu sein, sie fühlt sich ebenfalls durch ihre Eltern und ihre Kultur stark in ihren Freiheiten eingeschränkt. Sie darf nicht am Sexualkundeunterricht teilnehmen, nicht feiern gehen oder sich mit Jungs treffen, denn Kamala ist eine pakistanisch-amerikanische Muslima, mit einer überbehütenden Mutter und einem ziemlich ehrgeizigen Vater. Zudem gibt es noch einen faulen, dafür aber überfrommen Bruder.
Nachdem sie erneut mit ihren Eltern in einen Streit gerät, da sie Kamala nicht auf eine Feier gehen lassen wollen, schleicht sich diese heimlich aus dem Haus. Bei der Feier angekommen, stellt Kamala schnell fest, dass es ein ziemlich großer Fehler war, denn sie stößt nur auf dumme und teils rassistische Kommentare ihrer Mitschüler*innen.
Als sie wieder von der Party verschwinden will, zieht ein merkwürdiger Nebel auf, der zwei ganze Stadtteile überzieht, darunter auch New Jersey. Dies ist kein normaler Nebel, sondern jener, der im Finale des Marvel-Story-Arcs „Infinity“ freigesetzt wird: Der sogenannte Terrigen-Nebel sorgt dafür, dass jeder, in dem Inhuman-Gene schlummern und mit dem Nebel in Kontakt kommt, Superkräfte erhält.
So geschieht es auch mit Kamala Khan, welche nach einem ziemlich seltsamen Traum erwacht und sich mit dem Aussehen von Carol Denvers – im schwarz-gelben Kostüm der ursprünglichen Ms. Marvel – und der Fähigkeit wiederfindet, Körperteile partiell die Größe verändern zu lassen.
Erst kann sie diese Kräfte noch nicht kontrollieren, allerdings findet Kamala Stück für Stück heraus, wie sie diese richtig einsetzen kann. Anfangs noch – durch ihre formwandlerischen Fähigkeiten ermöglicht – mit dem Aussehen von Carol Danvers unterwegs, entschließt sich Kamala dann jedoch als sie selbst die Rolle der Ms. Marvel zu übernehmen und somit auch die Verantwortung für ihr Handeln.
Multi-Kulti
Mit der pakistanischstämmigen Muslima Kamala Khan setzt sich die Diversity-Offensive bei Marvel fort. Durch beispielsweise den von Fans gefeierten Miles Morales, der nach Peter Parkers Tod der neue Spider-Man wurde, oder Riri Williams, Iron Mans Nachfolgerin, übernahmen Figuren mit afroamerikanischen Wurzeln die Kostüme großer und bekannter Helden. Mit Amadeus Cho kämpfte ebenfalls ein neuer Hulk mit koreanischem Hintergrund bei Marvel.
Nicht nur mit Riri Williams ersetzt eine Frau einen männlichen Helden. Auch Clint Barton alias Hawkeye fand in Kate Bishop eine neue Schülerin, Laura Kinney etablierte sich als neue Wolverine und Jane Foster erwies sich des Hammers Mjölnir würdig und wurde zur neuen Thor.
Tipp: Wer sich gerne einen Überblick über diese Generationswechsel bei Marvel verschaffen will, sollte einen Blick in den zweiteiligen Comic „Marvel Generations“ werfen. Dort werden die zehn wichtigsten Wechsel in kleinen, abgeschlossenen Kurzgeschichten erläutert.
Selbstfindung
Nicht nur, dass Kamala mit 16 Jahren mitten in der Pubertät steckt, auch die Pflichten gegenüber ihren Eltern und ihrer Kultur stellen die neue Ms. Marvel vor große Herausforderungen. Schon vor dem Erwachen ihrer Kräfte kämpfte die junge Muslima mit ihrem eigenen Körper- und Selbstwertgefühl. Immer wieder sieht sie sich als nicht hübsch oder stark genug und zudem noch wie in einem Käfig eingesperrt. Die ständigen Moralpredigten ihrer Eltern über richtiges und falsches Verhalten tragen ebenfalls dazu bei, dass sich ein starkes Selbstbewusstsein ausprägen kann.
Eine klare Entwicklung wird offenbart, als Kamala sich schließlich entscheidet, ihre Kräfte nicht mehr getarnt als Carol Denvers einzusetzen, sondern als sie selbst. Sie erkennt ihre eigenen Stärken an und dass sie sich nicht hinter dem Gesicht von jemand Bekanntem oder Stärkerem zu verstecken braucht, um den Menschen zu helfen.
Kulturvermittlung mit Augenzwinkern
Mit G. Willow Wilson hat sich für die neue Ms. Marvel eine Autorin gefunden, welche ebenfalls gläubige Muslima ist und so einige Erfahrungen aus diesen Kulturkreisen mit einbringen kann. Wilson schafft es, in diesem Comic Einblicke in den Alltag und die Traditionen dieser Glaubensgemeinschaft zu verschaffen, jedoch fügt sich dies so gekonnt in die Geschichte ein, sodass Kamala nicht durch ihre Religionszugehörigkeit heraussticht, sondern durch ihren facettenreichen Charakter. Den Lesern wird nie auf die Nase gedrückt, dass Kamala Muslima ist.
Die Szenen, in denen der Islam in Kamalas Leben veranschaulicht wird, sind zudem stets mit einem Augenzwinkern dargestellt und erreichen nie strenge oder trockene Ernsthaftigkeit. So diskutiert Kamala in einer Szene mit dem Imam ihrer Moschee über die Trennung von Männern und Frauen im Gotteshaus und darüber, dass dies in der Prophetenmoschee nicht so wäre. Die Diskussion endet damit, dass Kamala und ihre Freundin Nakia die Moschee für einen Stadtbummel verlassen, da durch die Trennwände eh keiner merken würde, dass sie weg wären.
Auch, dass sie ihren Burkini, gegen den sie sich, laut ihrer Mutter, stets gewehrt hat, glatt zum Heldenkostüm umfunktioniert – schließlich ist er dehnbar – sorgt für ein kurzes Schmunzeln. Die Diskurse über sowie Darstellung von Religion erinnern hier sehr an den Comic „Persepolis“ von Autorin und Zeichnerin Marjane Satrapi.
Farben und Figuren
Es fällt auf, dass Zeichner Adrian Alphona stark auf erdige Töne setzt, sodass knallige Farben – wie beispielsweise das rot-blaue Kostüm von Kamala – sehr in den Vordergrund treten. Ebenso verhält es sich bei den Zeichnungen der Figuren im Kontrast zu der umliegenden Umgebung. Während Gebäude und Straßen meist recht vereinfacht dargestellt werden, sind die Figuren mehr ausgearbeitet, wirken durch das Spiel mit Licht und Schatten dynamisch und bekommen eine angenehme Plastizität. Die Leser merken sofort, worauf sie ihren Fokus legen sollen und wo gerade die Musik spielt, so zum Beispiel in der Gestik und Mimik der einzelnen Charaktere. Diese zeigt anschaulich, was gerade in den gezeigten Charakteren vorgeht und unterstreicht gut das Gesagte und die jeweilige Situation.
Adrian Alphona wählte für seine Charakterzeichnungen keine starken Konturen, wie man sie aus vielen anderen Comics kennt. Es sind feine Linien, die die Figur von der Umgebung abgrenzen und sie dennoch passend in die Szenerie einsetzen. Die Linien wirken wie mit einem sehr dünnen Feinliner gezeichnet, was dem Ganzen einen leicht skizzenhaften Eindruck verleiht.
Eine gelungene Nachfolgerin
Man kann mit Fug und Recht sagen, dass Kamala Khan eine rundum gelungene Ms. Marvel ist. Sie hat das Potential, die großen Fußstapfen, welche Carol Danvers hinterlassen hat, nicht nur würdig auszufüllen, sondern eine ganz eigene Marke zu setzen.
Die Auseinandersetzung mit ihrer Religion und Kultur ist passend und unaufdringlich in Szene gesetzt und verschafft für die Lesenden die Möglichkeit, sich in die – vielleicht fremde – Situation hineinzuversetzen. Dies liegt auch daran, dass Kamala eine unheimlich sympathische Person ist, welche man gerne bei ihren Abenteuern begleitet.
„Ms. Marvel“ ist auf jeden Fall eine Empfehlung für alle Comic-Fans und bietet ohne große Vorkenntnisse – was bei den beinah unüberschaubaren Haufen an Events und Story-Arcs im Marvel-Universum schon ein Wunder ist – ein spaßiges und angenehmes Lesevergnügen.
Ms. Marvel 1: Meta-Morphose. G. Willow Wilson. Zeichner: Adrian Alphona. Farben: Ian Herring. Übersetzung: Carolin Hidalgo. Panini Comics. 2015.
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Ein Beitrag zum Special #Kunterbunt. Hier findet ihr alle Beiträge.
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