Weiß-Einsamkeit

von | 24.02.2019 | Kreativlabor

Heller Tag: Ich atme die kalte Luft ein, sehe beim Ausatmen meine Atemwolke aufsteigen. Sie passt zu den Schneebergen rund um mich, durch die ich stapfe. Die Schneeschuhe sind schwer an den Füßen, mir ist es zu früh. Was macht man nicht alles dafür, die wenigen Stunden Sonne so hoch im Norden zu verlängern?, frage ich mich seufzend. Die Straße liegt vor mir in der weißen Weite, verschwimmt – wie immer zu dieser Jahreszeit – mit der Umgebung und ist nur daran zu erkennen, dass sie plattgefahren ist. Der Boden ist rau, die Bäume glitzern im Reif, der sich schwer auf ihre vereisten Nadeln legt. Ein Windstoß treibt mir klirrend Eiszapfen entgegen; außer meinem lauten Atem ist nichts zu hören.

Die Weite ist manchmal albtraumhaft; es ist so still. Als Stadtmensch muss man sich daran gewöhnen, mit sich und seinen Gedanken alleingelassen in einer Wetterstation zu hausen. Manchmal begegne ich auf meinen Streifzügen den wandernden Völkern, den Einheimischen, die weite Landstriche ihr Zuhause nennen und sich an Sternen orientieren. Ihr Tee ist grauenhaft, ihr Wissen faszinierend. Manchmal tausche ich den starken Selbstgebrannten gegen überliefertes Wissen: Sie können dem Wind die Antworten abringen, die er mir verweigert.

Foto: Worteweberin Annika

Wie ich das in Zahlen und Fakten verpacken soll – darüber mache ich mir meistens spätabendlich Gedanken, wenn er mir Unverständliches durch die Ritzen und Spalten der Observationsstation zuflüstert.

Das rhythmische Stapfen meiner Schneeschuhe verlangsamt sich: Ich bleibe irritiert stehen, sehe nach rechts – nach links – geradeaus. Es ist nichts rundum: Keine Häuser, keine Sträucher, keine Bäume, nichts.

Ich widerstehe, mir ungläubig die Augen zu reiben und gratuliere mir mental selbst: Ich bin wohl tatsächlich durchgedreht. Am helllichten Tag, stocknüchtern, inmitten meiner Weiß-Einsamkeit (von Waldeinsamkeit ist in der weißen Ebene aus Schnee und Eis nicht zu sprechen).

Nichtsdestotrotz warte ich, bis die Ampel auf Grün springt, um das weiße Nichts zu überqueren.

Text: Wortklauberin Erika
Foto: Worteweberin Annika

[tds_note]Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 32.[/tds_note]
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