Vorgetragene Lyrik: Sangspruchdichtung, Popmusik und Poetry Slam

von | 28.03.2018 | Kreativlabor

Wie viel Originalität ist in der Kunst überhaupt noch vorhanden? Ist Popmusik poetisch? Und was ist eigentlich „Literatur“? Zeichensetzerin Alexa macht sich Gedanken über Sangspruchdichtung, Popmusik, Poetry Slam und den Literaturbegriff.

Neulich unterhielt ich mich mit einer Bekannten über den Literaturnobelpreis. „Was das eigentlich soll“, setzte sie an. „Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur zu verleihen! Er ist Musiker, kein Literat!“ Ich, die schon immer Vertreterin des weiten Literaturbegriffs war, entgegnete: „Aber was ist denn ein Literat? Und was ist Literatur? Wo beginnt sie und wo hört sie auf?“ Die Bekannte ist sich sicher: „Literatur ist das, was zwischen den Buchdeckeln ist!“

Ich erinnere mich an die unzähligen Artikel und Diskussionen in den sozialen Netzwerken, als im Jahre 2016 Bob Dylan der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Und an die Kritik, die der Jury des Preises galt. „Falscher Preis für den Richtigen“ heißt es in der Frankfurter Allgemeine. Der Autor des Artikels, Tobias Rüther, meint: „Wenn überhaupt, dann hätte Bob Dylan den Nobelpreis für Popmusik verdient. Er ist eine der überragenden Figuren seiner Branche, ob man ihn nun mag oder nicht.“

Ist Popmusik poetisch?

Erhalten hat Dylan den Preis „für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“. Dass Popmusik auch Poesie ist, streitet Rüther in seinem Text gar nicht ab – sie ist allerdings noch mehr als das: „Aber genauso gehören auch Elemente zur Popmusik, die nicht aus Buchstaben gemacht und gerade deswegen schwer zu beschreiben sind: Melodie. Performance. Tanz – auf der Bühne und davor. Mode. Frisuren. Körperlichkeit überhaupt. Der richtige Moment. Charisma und Schönheitsfehler, die Identifikation erlauben.“

Ich denke über diese Worte nach und blicke zurück: Da war doch mal was mit Sangspruchdichtung, die seit dem 12. Jhd. ebenfalls vorgetragen wurde. Es gibt viele Ähnlichkeiten zur vorgetragenen Lyrik von heute, sei es Popmusik oder Poetry Slam – vordergründig geht es bei diesen Kategorien darum, einen lyrischen Text (meist auf einer Bühne und instrumental begleitet) vorzutragen. Während im Mittelalter das Urheberrecht, die Individualität und Originalität nicht von Bedeutung waren, gelten Namen heutzutage als „Marken“. Die Performance/Selbstdarstellung ist das Aushängeschild, der Name das, wofür die Künstler stehen. (Nicht verwunderlich ist daher, dass Autoren vermehrt je nach Genre unter verschiedenen Pseudonymen schreiben. Hier verkauft sich der Name, nicht der Inhalt.)

Kunst als Spiegel der Gesellschaft

Kunst ist auch immer ein Spiegel der Gesellschaft: Ob in Literatur, Musik, der darstellenden oder bildenden Kunst – stets werden Themen aus dem aktuellen Zeitgeschehen aufgegriffen. Politisches wird ebenso thematisiert wie Religion, daneben die großen Themen wie Liebe und Tod. Das hat sich über die vielen Jahre nicht geändert. Gewandelt haben sich jedoch die Tabuthemen – jede Zeit hat ihre eigenen.

Ein Beispiel für das Aufbrechen von Tabuthemen ist Lisa Eckhart, die mit Themen und Sprache jongliert wie ihr beliebt. Hier lassen sich die von Rüthers aufgezählten Elemente wiederfinden: Die (Sprach-)Melodie und Performance, Charisma, das Auftreten auf der Bühne, die Mode und Frisur, das Körperliche und „der richtige Moment“. Es fehlt: der Tanz und die Hintergrundmusik. Aber Poetry Slam funktioniert auch außerhalb der Bühne, mit Musik hinterlegt als „Poetry Clip“, wie Leticia Wahl mit ihrem Text „Ich bin hohl“ zeigt. Oder Sandra Da Vina mit „Ohne mich“.

Waren es früher die Mäzene, auf die Dichter finanziell angewiesen waren, ist es heute die Gesellschaft, der etwas verkauft werden muss. Als Dank erwähnten die Dichter Mäzene in ihren Texten, sprachen Lob und Dankbarkeit aus. Heute werden Sponsoren textlich sowie grafisch in das Werk eingebunden. Denn der größte und wichtigste Unterschied ist: Sangspruchdichtung wurde vor einem meist höfischen, adeligen Publikum vorgetragen. Heute stehen uns Medien zur Verfügung, über die wir die eigene Kunst verbreiten und sie allen, die einen Internetzugang haben, zugänglich machen können. Soziale Netzwerke, Videos, Bilder – es gibt viele Möglichkeiten, etwas darzustellen und in Umlauf zu bringen.

Poetry Slam wird beispielsweise vom Hamburger Veranstalter „Kampf der Künste“ aufgenommen und auf YouTube veröffentlicht. „Die Auftretenden können bei uns mit dem richtigen Talent schnell vom Underground auf die größeren Bühnen aufsteigen“, schreibt der Veranstalter, der 80.000 Besucher*innen pro Saison hat. Der Wettbewerbs-Aspekt gehört zum Poetry Slam dazu: Hier entscheidet das Publikum darüber, wer weiterkommt.

Gibt es noch Originalität?

Ich erwähnte bereits die Originalität und Individualität – und frage mich nun, ob wir in mancherlei Hinsicht nicht wieder rückschrittlich agieren. Wie viele Bücher werden jährlich veröffentlicht, von denen der Inhalt beinahe identisch ist? Wie viele Popsongs hören wir tagtäglich im Radio, die dem gleichen Muster folgen? Wie viel von dieser Originalität und Individualität ist überhaupt noch vorhanden? Ist nicht bereits alles gesungen und erzählt? Ist nicht alles schon einmal in ähnlicher Form veröffentlicht worden?

Jim Pandzko und Jan Böhmermann haben ein Experiment gewagt: „‘Menschen Leben Tanzen Welt‘ von Jim Pandzko feat. Jan Böhmermann wurde aus Kalendersprüchen, Werbeslogans, Zeilen aus aktuellen Popsongs und Tweets von Bibi und Sami Slimani zusammengestellt. Von fünf Schimpansen aus dem Gelsenkirchener Zoo.“ Das Musikvideo ist als Text-Bild-Collage gestaltet, in der Bildabfolgen und Textausschnitte unzusammenhängend präsentiert werden. Mit diesem Musikvideo wird die aktuelle Musikindustrie dargestellt: belanglose Texte, sich wiederholende Textzeilen wie „Oh oh eh oh oh“ und Produktwerbung. Ziel des Videos sei es, laut Böhmermann, den Echo 2018 zu gewinnen.

Um zurück zu Bob Dylan zu kommen: „Dylan ist kein Sänger, der gelegentlich auch mal literarisch ambitionierte Texte schreibt. Sowenig wie er eigentlich ein Dichter ist, der sich aus Versehen eine Gitarre umgehängt hat“, meint Literaturwissenschaftler Heinrich Detering zum Nobelpreis für Dylan. „Der Witz ist grade, dass er in derselben Weise wie, sagen wir, die großen Minstrels und Minnesänger des Mittelalters, die […] versucht haben mit den Mitteln der Musik und Aufführung die Poesie in ihre Ursprünge zurückzuführen. Niemand hat das so eigenwillig und so erfindungsreich getan wie Bob Dylan.“

Literaturbegriff im Wandel

Hat Bob Dylan demnach doch den „richtigen“ Preis erhalten? Vermutlich müsste – bevor eine Diskussion über die Entscheidung der Preisverleihung geführt werden kann – zunächst die Definition von Literatur geklärt werden. Im Mittelalter war das Verständnis von Literatur noch ein offenes. Literatur war ein weiter Begriff und schloss Minnesang und Sangspruchdichtung ein. Heute ist die Auslegung abhängig von vielen Faktoren und Institutionen wie Verlagen und Universitäten.

Allein im Studiengang Germanistik an der Universität Bremen gibt es Dozierende, die unter „Literatur“ nur die sogenannte „anspruchsvolle/hohe Literatur“ verstehen. Andere hingegen vertreten die Meinung, dass Literatur nicht nur auf Texte beschränkt ist. So werden Film und Game Studies zunehmend Gegenstand germanistischer Analysen. Der Begriff „Literatur“ wird neu definiert und erweitert. Unter diesem Blickpunkt würde auch Dylans Werk in die Kategorie „Literatur“ fallen.

Dass der Literaturbegriff derzeit im Wandel ist, sieht man beispielsweise auch in Buchhandlungen, in denen „Literatur“ von Unterhaltungsromanen getrennt ist. (Was an sich absurd ist, da jede Art von Literatur – abgesehen von Forschungsliteratur – der Unterhaltung dient; die eine mehr, die andere weniger.) Auf der anderen Seite werden Poetry Slam und Songtexte als literarisch angesehen.

Der Literaturbegriff ist ständigen Veränderungen ausgesetzt und muss stets hinterfragt und neu definiert werden – ausgehend von medialen Entwicklungen und neuen Erzählformen. Literatur ist schon lange nicht (mehr) auf das Medium Buch begrenzt. Was also ist Literatur? Wo beginnt sie und wo hört sie auf?

Weiterlesen: Tervooren, Helmut: Sangspruchdichtung. Stuttgart. 2001.
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Bild: Zeichensetzerin Alexa

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