Von der Schlacht der Ungezählten Tränen bis ins Jahr 2018

von | 11.09.2018 | Belletristik, Buchpranger

Seitenkünstler Aaron versuchte sich unvoreingenommen an seiner ersten „richtigen“ Tolkienlektüre und berichtet von einer unerwarteten Reise nach Mittelerde.

Wie verfasse ich eine Rezension zu einem Klassiker der phantastischen Literatur? Wo sind die Maßstäbe zu setzen bei einer neuen Auflage eines alten und weithin bekannten, oft gelesenen und besprochenen Textes? Sollten Vergleiche mit aktueller oder zeitgenössischer Literatur vorgenommen werden? Zunächst muss kurz erklärt werden, warum ich nicht unvoreingenommen an „Die Kinder Húrins“ herantreten konnte.

Eine bücherstädtische Welt ohne Tolkiens phantastisches Universum ist heute kaum vorstellbar.1 Ringgeister und Elben umgeben uns als Spielfiguren und in anderen medialen Aufbereitungen. Nicht zuletzt die populären Verfilmungen2 haben dazu beigetragen, dass der „Hobbit“ auch als Antonomasie (wie „Tempo“ für Taschentücher) in unserer Sprache lebt. Selbstverständlich kam auch ich bereits mit dem „Herrn der Ringe“ in Kontakt – zunächst durch das Hörspiel.3

Doch so leicht sich begeisterte Gespräche über Legolas und Gimli entwickeln, so schwer ist es, über den „Maiar“ Gandalf zu sprechen, der von den „Valar“ gekommen ist, um „Melkors“ Einfluss auf „Arda“ entgegenzuwirken. Wer jedoch mal was von Tolkiens Schriften gelesen hat, dem sollten sich Fragen wie „Wer hat den einen Ring geschmiedet?“ schnell erschließen. Dachte ich. In Erwartung einer aufschlussreichen und kompakten Story griff ich zunächst zum kleinformatigen Buch „Die Kinder Húrins“. Wie sehr ich mich irrte …

Von Anfang an …

In einer Zeit des Krieges verflucht der bösartige und gottgleiche Morgoth die Familie des aufbegehrenden Menschen Húrin. Dessen Sohn Túrin flieht und seine Wege verknüpfen sich mit dem Schicksal der Menschen, Elben, Orks und Drachen. Der Fluch bleibt dabei stärker mit ihm verbunden als sein eigener Name.

Soweit zusammengefasst lässt sich die Handlung grob überblicken, doch beim erstmaligen Lesen des Buches können sich Lesende unmöglich ein solches Bild machen. Zu komplex sind die Nebenhandlungen und Hintergründe und zu verwirrend sind die fantasievollen Personen- und Ortsnamen. So ist nicht leicht auszumachen, ob nun Túrinder Protagonist ist, oder etwa sein Vater oder etwa andere Mächte. Für volles Verständnis der märchenhaften Dialoge müssen Zusammenhänge erst erschlossen werden, etwa warum Húrin verflucht wird, wieso Krieg herrscht und zwischen wem.

Die zum Teil stark zeitraffende Erzählung verzichtet paradoxerweise auf häufige oder unnötige Ausschmückungen und springt von Wende zu Wende. Doch gerade durch die Reihung komprimierter Geschichten epochalen Ausmaßes werden auf jeder Seite sehr viele Akteure und Orte benannt. Dies vermittelt zwar ein umfassendes und einnehmendes Bild der Welt, aber es erschwert, bei der Lektüre den Überblick zu behalten.

… kreativer Prozess im Familienerbe …

Der Text „Die Kinder Húrins“ war ein unveröffentlichtes Fragment voller Ideen und Möglichkeiten und J.R.R. Tolkien war ein Wissenschaftler, der Sprachen und Schriften beforschte und ersann. Sein Sohn Christopher und dessen Sohn Adam scheinen die resultierende Vielschichtigkeit des Werkes zu wahren, indem sie es nicht zu stark vereinheitlichen. Das Ergebnis bleibt ein anspruchsvoller Text, der selbst geübte LeserInnen fordern kann. Zum Beispiel kommen Verständnishürden durch häufige Namenswechsel vor; Allein Túrin wird auch mal Thurin, Turambar, Agarwaen, Adanedhel, Gorthol, Mormegil oder Neithan genannt.

Die Neuauflage bringt einerseits den vorhandenen Text in eine kohärente Form, scheint aber auf starke Abänderungen zu verzichten. Entstanden ist ein ordnendes Buch, das die sagenhafte und empfehlenswerte Geschichte mit Texthilfen lesbar macht. Die Ordnung bringt aber auch Spoiler mit sich, weswegen ich vor den Kapitelüberschriften im Inhaltsverzeichnis warne!

… zu Ende gedacht.

Die Neuauflage bietet ErstleserInnen einige Hilfestellungen: Im Vorwort erklärt der Sohn Christopher Tolkien den unvollendeten Zustand des Werkes seines Vaters und somit auch die durch Lücken scheinbar raffende Erzählweise. Anschließend bietet er einen Einstieg in das Universum, in dem das Land Mittelerde besteht, und in welchem Zeitalter die Geschichte stattfindet, nämlich weit vor den Ereignissen im „Hobbit“.

Auf zwei weiteren Seiten wird kurz erklärt, wie die Sprachlaute (th, dh, c, ei, …) ausgesprochen werden. Dies hilft, „Túrin“ nicht fälschlicherweise als Turrin mit kurzem U zu lesen. Auf den letzten 50 Seiten der Ausgabe sind Stammbäume, Namenslisten, eine Karte und weitere Anmerkungen zu finden, die mir oft geholfen haben, den Text zu verstehen. Trotz all dieser Hilfestellungen war ich ab und zu froh, auch auf von Fans im Internet bereitgestellte Informationen zugreifen zu können.

Das grafische Beiwerk ist ebenfalls lobenswert. Die Illustrationen Allan Lees sind teils als dezente Bleistiftzeichnungen, teils als ganzseitige farbige Bilder eingebunden. Sie vermitteln eine ernsthafte Stimmung und deuten meistens Landschaften, Gegenstände und Figuren an, ohne die Vorstellungen beim Lesen zu sehr zu beeinflussen.

Der Text wäre ohne die gebotene Hilfe der Neuauflage nur sehr schwer zu verstehen, aber sollte deswegen nicht verurteilt werden. Die Lektüre der eigentlich lückenhaften Literatur fordert LeserInnen heraus, den Inhalt wirklich forschend zu erarbeiten. Aktuell scheint dieses Konzept auch bei Spielen wie „Dark Souls“ und „Bloodborne“ beliebt zu sein. Die Interaktion zwischen Mensch und Medium wird dabei nicht nur auf das bloße Anschauen beschränkt, denn die Hintergründe lassen sich nur durch Mitdenken erfassen. Mich haben das Eintauchen und das begleitende Anlesen von Hintergrundwissen derart gefesselt, dass ich einige Zeit nichts anderes im Kopf hatte.

Was die Geschichte hätte werden können und wie J.R.R. Tolkien seinen Text vollendet hätte, kann dank dieser Ausgabe erahnt werden. Es ist wirklich fantastisch, wie generationenüberschreitend an diesem Text bis zu der hier besprochenen Version gearbeitet wurde. Die Arbeit hinter dieser Neuauflage erschließt leseinteressierten Tolkienfreunden ein Werk, das in seiner bedeutungsschweren Tragik berührt und mit etwas gutem Willen in Tolkiens tiefgründige Phantastik einführt. Der Griff zu diesem Buch hat meinen Horizont über Mittelerde und über Möglichkeiten des Fantasygenres erweitert. Ich hoffe, dass die Geschichte um Húrins Kinder nicht vergessen und stattdessen eines Tages neu erzählt wird…

Die Kinder Húrins. Hg.: Christopher Tolkien. Text: J.R.R.Tolkien. Übersetzung: Hans J. Schütz, Helmut W. Pesch. Illustration: Alan Lee. Klett-Cotta. 2015.

 

1 Beim BK sind bereits einige Texte zu Tolkiens Werken erschienen, hier eine Auswahl:

2 Der Herr der Ringe-Verfilmungen (2001-2003) und „Der Hobbit“ (2012-2014), Regie Peter Jackson.
3 Der Herr der Ringe-Hörspiel (1991), der Hörverlag, Regie: Bernd Lau, mit u.a. Rufus Beck, ca.12h Laufzeit.

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