Von adeligen Ratten, Irrlichtern und einem kleinen Waisenmädchen

von | 03.03.2016 | Belletristik, Buchpranger

„Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren…“ Das muss auch die kleine Emily Laing erfahren, die in einem nicht gerade vertrauenswürdigen Waisenhaus in Rotherhithe in London aufwächst: Kinder werden von einer unheimlichen Dame mitgenommen; wenn sie zurückkehren, sind sie nicht mehr dieselben. Die Betonung liegt hierbei auf wenn – denn manche von ihnen werden nie wieder gesehen. – Von Bücherstädterin Kathrin

Eines Tages wird die zwölfjährige Emily von einer sprechenden Ratte namens Lord Hieronymus Brewster gebeten, ein Auge auf das neuangekommene Waisenmädchen Mara zu haben. Als diese dann von einem Werwolf entführt wird, beginnt eine spannende Jagd durch die „Stadt der Schornsteine“ – oder eher unter dieser, denn London birgt ein Geheimnis: Eine Stadt unter der Stadt, die die uralte Metropole genannt wird. Zusammen mit dem Alchimisten Mortimer Wittgenstein, dem Elfen Maurice Micklewhite und ihrer besten Freundin Aurora macht sich Emily auf die Suche nach dem verschwundenen Mädchen. Auch das dunkle Geheimnis um Emilys Herkunft kann dabei gelüftet werden.

Nicht mehr aus der Hand zu legen

„Lycidas“ ist der erste Teil einer Trilogie, in der Christoph Marzi allerlei phantastische Wesen kreiert, Legenden und Mythen neu verwebt, und auch vor realen historischen Ereignissen keinen Halt macht. So erfahren wir unter anderem auch, was es mit Jack the Ripper wirklich auf sich hatte. Der verschrobene, aber liebenswerte Wittgenstein fungiert hierbei als Erzähler und berichtet auf seine ihm ganz eigene charmante, aber auch märchenhafte Art und Weise, die mich trotz der doch recht düsteren Geschichte auch immer wieder hat schmunzeln lassen. Der wunder-voll andere Schreibstil Marzis lädt zum Träumen ein und entwickelt einen Sog, durch den ich das Buch nicht wieder aus der Hand legen konnte. „Nur noch ein Kapitel“ war dabei meine Devise, die so gar nicht funktionierte…

Abgeschrieben?

Den Vorwurf des ‚Abschreibens‘, der an einigen Stellen von manchen Kritikerstimmen bemängelt wird, kann ich ganz und gar nicht nachvollziehen. Auch wenn Marzi sich bei manchen Geschichtssträngen (z.B. von Charles Dickens, der zu seinen Lieblingsautoren zählt) hat inspirieren lassen, entwirft der Autor eine eigene phantastische, neue Welt, in der Engel als Straßenmusiker am Oxford Circus auftreten, Irrlichter als Pfadfinder arbeiten und Ratten einem Adelsgeschlecht angehören. Durch zahlreiche literarische Verweise trifft man auf ‚alte Bekannte‘, die man eigentlich zu kennen glaubt, und dennoch ist nichts, wie es scheint, und so bleibt es bis zum Ende spannend. Mit Abschreiben oder der Unfähigkeit zu eigenen Ideen hat dies rein gar nichts zu tun. Welcher literarische Text ist heute schon noch frei von intertextuellen Verweisen? Diese Verweise sehe ich als eine Wertschätzung an Marzis Lieblingsautoren, die alten Figuren neues Leben einhaucht und sie in einen anderen, und vor allem neuen, Kontext setzt.

Mir hat Lycidas sehr gut gefallen. Es gehört nun zu meinen absoluten Lieblingsbüchern, deswegen gibt es für dieses Buch auch eine klare Leseempfehlung für alle, die für Fantasy, Märchen und Krimis brennen – Ihr solltet Emily, Wittgenstein und Co. unbedingt auf die Reise durch die uralte Metropole begleiten. Ob ich mir schon die weiteren Bände zugelegt habe? – „Fragen Sie nicht.“

Lycidas – Die Uralte Metropole. Christoph Marzi. Heyne. 2011.

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